Die Eiskrone
Bindungen, Vorschriften – und keine Freiheit. Roane bewegte sich, und wieder kam die Hand aus dem Dunkel, griff nach ihrer Schulter und zog sie in den Schutz der Wärme eines anderen Körpers. Jetzt war sie nicht mehr einsam.
»Was ist, Roane? Warum weinst du?« Seine Stimme war ein warmer Atem an ihrer Wange. Erst jetzt bemerkte sie, daß ihre Wangen feucht waren, daß sie geweint hatte. Wann hatte sie zuletzt geweint? Es war schon sehr lange her. Damals war sie ein kleines, sehr einsames Kind gewesen.
»Ich glaube, weil ich so allein bin«, flüsterte sie.
»Du bist nicht allein, Roane! Fühlst du dich deshalb einsam, weil du von den Sternen kommst und hier keine Angehörigen hast? Möchtest du zu deinem Volk zurückkehren? Ich verspreche dir, dich dorthin zu bringen.«
»Sie wollen mich jetzt nicht haben.«
»Du sollst aber nicht glauben, daß andere dich auch nicht haben wollen.« Der Arm um ihre Schulter war sehr tröstlich. »Ich habe nachgedacht … Warum hast du die Königin und Reddick in deinem Traum gesehen? Du bist ja keine Wahrsagerin, die eine Gefahr für das eigene Leben sah. Aber du kamst nach Hitherhow, um meine Flucht zu bewerkstelligen. Solche Visionen sind ungewöhnlich.«
Vielleicht wollte er sie nur ablenken, damit sie an andere, leichtere Dinge dachte. Aber dieser Traum … Er ließ sie einfach nicht los.
»Ich weiß es nicht. Ich habe keine übersinnlichen Kräfte. Mein Volk versteht solche Dinge und hat mich geprüft.«
»Und doch hast du auf dieser Welt Dinge getan, die deiner ganzen Ausbildung entgegenstehen. Ich glaube nicht, daß du zu jenen gehörst, die mit voller Absicht Gesetze brechen und die Autorität verneinen. Das ist doch richtig?«
»Ich weiß es selbst nicht mehr. Als ich die Prinzessin in jenem Turm zum erstenmal sah, da mußte ich ihr einfach helfen. Ich konnte nicht anders. Onkel Offlas sagt, ihr alle seid konditioniert. Vielleicht wurde ich auch beeinflußt, als ich die Sicherheit unseres Lagers verließ.«
»Aber du hast doch diese Maschinen gesehen. Die Prinzessin konnte sie hingegen nicht sehen. Wenn es also eine Manipulation gibt, dann war sie für dich mindestens nicht vollständig.«
»Macht das jetzt etwas aus? Ich habe gegen die Vorschriften des Service verstoßen und damit vielleicht das ganze Durcheinander erst verursacht. Die Prinzessin hätte nichts von der Krone gewußt, wäre sie nicht zur Höhle gegangen. Und hätte sie nicht die Krone gefunden …«
»Roane, rede dir doch nicht ein, daß du die Schuld am Unglück eines ganzen Landes hast!«
Seine Finger berührten sanft ihre Wange, und sein Arm war noch immer eine Barriere zwischen ihr und der Einsamkeit.
»Du weinst ja schon wieder! Ich sage dir, du hast keine Schuld. Du hast nur Gutes getan. Hättest du die Prinzessin nicht vor Reddicks Männern gerettet, wäre sie jetzt vielleicht tot. Und wärst du nicht nach Hitherhow gekommen, wäre ich wahrscheinlich auch schon gestorben – und das sehr langsam und qualvoll.«
»Der Sergeant war da, Mattine und andere …«
»Sie hätten vielleicht nur ihr Leben aufs Spiel gesetzt, ohne daß es mir genützt hätte. Wir hätten auch niemals von diesen Maschinen erfahren. Wenn du die Prinzessin nicht dorthin geführt hättest, dann würdest du sie wahrscheinlich auch niemals entdeckt haben.«
»Vielleicht.«
»Wahrscheinlich hättest du ohne das, was du von uns erfahren hast, auch nie entdeckt, was sie bedeuten. Nein, alles, was du getan hast, ist von großer Bedeutung. Wir müssen nur lernen, die Zusammenhänge zu sehen.«
»Ich verstehe das alles nicht.«
»Ich auch nicht. Ich glaube aber, daß es einen Grund gibt, weshalb du der Prinzessin helfen mußtest. Du sagst, jene, die wir als Hüter kennen und verehren, seien lange tot und hätten Böses getan, weil sie die Menschen als Werkzeug benützt hätten. Und nun fürchtet dein Volk das zu zerstören, was sie Böses getan haben. Aber warum mußtest du deine Geschichte ausgerechnet dem einzigen Mann von Reveny erzählen, der sie glauben konnte, weil sein Ahnherr nicht dem ganzen Fluch unterlag?«
»Zufall – Glück –, ich weiß nicht, was sonst noch.«
»Ich weiß es auch nicht. Roane, sag, könntest du die Höhle wiederfinden?«
»Willst du die Krone befreien?«
»Ich weiß es nicht. Das kann ich nicht wissen, bis ich dort stehe und sehe, was diese Sklaverei bedeutet. Ich muß hingehen. Roane. Kannst du mich hinbringen?«
»Wenn wir es wagen können. Sie liegt in der Nähe von
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