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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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tatsächlich? Und wofür sind Sie dann gut? Sie müssen irgendetwas besser können als andere, denn ich habe Erinnerungen an Sie.« Sie legte ein Grinsen in ihre Augen. Es würde bei ansonstiger Bewegungsstarre kaum wahrnehmbar sein und bei jedem aufmerksamen Beobachter seine Wirkung genau deswegen nicht verfehlen.
    Er zeigte auf einen Stapel Zeitungen auf dem Sideboard neben der alten Stereoanlage: »Haben Sie die schon gesehen?«
    »Ja, gesehen. Aber nicht gelesen.«
    »Es widerstrebt Ihnen, nicht wahr?«
    »Durchaus. Mir widerstrebt so einiges, wenn ich das mal so sagen darf. Meinen Sie etwas Bestimmtes?«
    »Ja, das Nicht-Lesen-und-Schreiben-Können.«
    Sie blickte aus dem Fenster, hinter dem sich der Himmel langsam auflockerte. Sollte er ruhig. Wenigstens etwas. Es war weniger das Schreiben, sondern vielmehr das Lesen, das ihr wirklich fehlte. Wenn nicht das Auge, sondern der Geist die Fähigkeit zu lesen verlor, war es besonders schlimm, fand sie. Es tat weh, war fast so, als trüge sie unbewusst etwas von dieser Enttäuschung wie ein Déjà-vu in jeden neuen Tag hinein. Sie hatte an diesem Morgen schon beim ersten Augenaufschlag die unbestimmte Befürchtung gehabt, dass ihr Mann ihr genau das sagen würde, was er ihr dann sagte. Es war wie ein drohendes Unwetter, das man schon vorher in den Knochen spürt, nicht die Erinnerung selbst, sondern das Gefühl einer Erinnerung. Immerhin. Und doch blieb das Problem ein Problem.
    |160| Ihr Gatte hatte alle Bücher von ihrem Nachttisch entfernt. Sie lagen jetzt im Wohnzimmer. Schwarze Zeichen auf weißem Papier, möglicherweise unterschiedlich in Größe, Form, Anordnung, Abstand. Nichts weiter. Keine Landschaft mehr im Kopf. Nicht mehr die Möglichkeit, unbemerkt Gefühle zu riskieren, innerlich zu heulen wie eine Schlosshündin, auch Dinge in einem anderen Licht zu sehen, zu untersuchen, zu hinterfragen, zu wissen. Wissen war Macht, war Freiheit. Ja, bei der Lektüre konnte man die Beschränkungen von Körper, Raum und Zeit überwinden, auch wenn ihr Letzteres schon mit einem herabfallenden russischen Brett gelungen war. Doch es ging um mehr, es ging um jene Momente, die einem beim Lesen ganz alleine gehörten, wenn die Augen mit kleinen, präzisen Bewegungen über die Zeilen eilten. Momente, in denen man nicht befürchten musste, Anstoß zu erregen oder jemanden zu kränken, weil man sich gerade anderweitig konzentrierte. Sie hatte sich immer sehr gern konzentriert.
    Jetzt aber war ihr Urteilsvermögen auf fatale Art und Weise eingeschränkt, sie musste sich vortragen lassen, was andere glaubten den Zeichen zu entnehmen. Sie hatte morgens eine so genannte SMS bekommen, man hatte es ihr erklärt. Verstanden hatte sie nur den Smiley am Ende. Das Einzige, was ihr blieb, war ihre Intuition, die sie jetzt trainieren musste wie eine vernachlässigte Muskelpartie. Natürlich, daraus konnte mit etwas Übung so etwas wie Vertrauen erwachsen, aber so richtig sicher konnte sie sich nie sein. Sie taumelte von Situation zu Situation, von Mensch zu Mensch. Es tat weh. Ja, sie vermisste das Lesen.
    Ihr Blick ging wieder ins Zimmer. »Nun, ich wollte immer wissen, was auf mich zukommt, Informationen aufnehmen und abrufen, jedes Detail. Und jetzt das. Das ist nicht schön. Das muss ich ganz klar sagen.«
    |161| Er lehnte sich zurück, wollte sie offenbar reden lassen. Aber sie war schon am Ende mit ihrem Satz.
    »Wollten Sie jemals ein Buch schreiben?«
    »Gott behüte, nein. Mir reicht schon, dass ich mich irgendwann malen lassen muss für diese Herrenrunde an der Wand, der Kunst mein Gesicht geben, mit ein paar Jahreszahlen darunter. Wie vermessen eigentlich. Doch man darf es wohl nicht allzu ernst nehmen, nicht wahr? Ich könnte mit Pink liebäugeln, vielleicht mit einem Hauch von Roy Lichtenstein?«
    »Flüchten Sie gern in andere Welten?«
    »Wie jetzt? Außenpolitisch?«
    »Nein, literarisch.«
    »Och.«
    Dieses Mal ließ er sie nicht zu Ende reden, stand auf und ging im Raum umher. »Ich halte das Lesen in Ihrer derzeitigen Verfassung für pure Zeitverschwendung. Ich weiß, ich komme in Teufels Küche, wenn ich so etwas hier und jetzt verlauten lasse. Aber lesen ist nicht tun. Sehen Sie, Sie brauchen durchschnittlich eine Sekunde für sechs Wörter. Das ist zu lang, viel zu lang für Sie. Und ich frage Sie: Warum hat unser Primatenhirn erst vor fünftausendvierhundert Jahren plötzlich das Lesen erfunden, nach millionenjähriger Evolution?«
    Sie war sich nicht sicher.

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