Die Eisläuferin
zwei Gedankenschritte weiter als sein Gegenüber. Sie kannte das. Und doch schien es ihr, als sei sein Zugang ein anderer als ihrer. »Also, über mangelnde Erlebniswelten kann ich mich nun wahrlich nicht beklagen.«
»Das meine ich nicht.«
Ihre Frage war ihr wohl ins Gesicht geschrieben, und er fuhr fort: »Ich würde gern von Ihnen wissen, was Sie wirklich gern einmal tun würden. Haben Sie einen Kindheitstraum, den Sie nie gewagt haben, zu verwirklichen?«
Sie guckte, war fassungslos, aber er nahm seine Frage nicht zurück, im Gegenteil: »Hören Sie, Sie sind Regierungschefin, da können Sie sich doch ohne großen Aufwand auch einmal ein paar unorthodoxe Wünsche erfüllen.«
»Das sagen Sie so. Regieren Sie mal ein Land, und dann auch noch als Frau. Es gab Zeiten, da habe ich genau das für einen unorthodoxen Wunsch gehalten. Alle anderen Wunscherfüllungen wären in meiner Position wohl eher |165| kontraproduktiv!« Das ließ tief blicken, und sie bereute es in dem Moment, in dem sie es sagte.
Er überging es. »Denken Sie an Ihren Mandelkern.«
»An was? So was habe ich nicht.«
»Doch, sogar zwei davon, mitten im Hirn. Der Mandelkern ist Spezialist für emotionale Angelegenheiten und dürfte sich bei Ihnen, mit Verlaub, zu Tode langweilen. Verstehen Sie mich nicht falsch, die Erinnerung kommt nicht von allein. Sie müssen rausgehen und sie sich holen. Das wissen Sie.«
Sie presste die Lippen aufeinander, versuchte ruhig zu bleiben.
In diesem Moment steckte ihr Mann wieder den Kopf zur Tür herein, schaute, wie ihr schien, leicht prüfend zu Dimitrij, dann langsam zu ihr und wieder zurück. Sie werde erst in drei Stunden im Amt erwartet, sagte er, die Büroleiterin habe soeben angerufen. Der Therapeut habe um etwas mehr Zeit gebeten. Man sah ihrem Mann an, dass ihm die Sache nicht geheuer war, ja, dass da sogar etwas war, das ihm wirklich zu denken gab. Er stockte, bevor er die Erklärung lieferte, die er selbst nicht zu glauben schien: »Nun, er will mit dir zum Schlittschuhlaufen gehen.«
Stille. Nun schaute sie von einem zum anderen.
Ihr Mann, der immer noch in der Tür stand, kam ihr zuvor: »Das hätten wir doch früher auch mal zusammen tun können. Warum hast du nie ein Wort gesagt? Und jetzt wird daraus gleich eine ganze Therapie gemacht! Ich dachte, ich könnte das alles verstehen, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich werde hier noch irre.«
Er schien wirklich aus der Fassung zu sein, mehr als sie selbst, und er stand dort in der Tür, halb im Raum, halb doch nicht, als wolle er abgeholt werden. Ihr Blick ging zu Dimitrij: »Woher um Himmels willen wissen Sie das?«
»Ganz am Anfang, als wir uns kennenlernten, haben Sie |166| mir erzählt, dass Sie als kleines Mädchen davon geträumt hätten, Eiskunstläuferin zu sein, den dreifachen Rittberger zu schaffen. Sind Sie denn als Kind Schlittschuh gelaufen?«
»Nein. Keine Ahnung. Hören Sie, das ist lächerlich.«
»Was reizte Sie damals an dieser Vorstellung?« Er ließ wieder nicht locker.
Und tatsächlich, das Bild war drin in ihrem Kopf: »Nun, ich denke, es waren die Beweglichkeit, der Charme, die Anmut.«
Die Tür wurde zugeknallt.
Sie lehnte sich im Sessel zurück und lachte, lachte laut los. »Hören Sie, das ist ja putzig, dass Sie und ich jetzt an das kleine Mädchen denken. Aber das ist inzwischen etwas größer und schwerer geworden. Nein, mich kriegen Sie nicht mehr aufs Eis. Vergessen Sie’s, ich hab’s auch abgehakt. Es stehen wichtigere Dinge an.«
Die Büroleiterin beendete das Gespräch und blickte genüsslich auf die Postberge. Es hatte sie wie immer nur einen Anruf gekostet, doch dieser war anders gewesen, hatte einen Termin betroffen, den man nicht alle Tage machte. Herr Bodega hatte ihr den Tipp mit der alten Eissporthalle etwas außerhalb der Stadt gegeben. Man müsse das Gelände nicht unbedingt eine Stunde lang für die Öffentlichkeit sperren, denn die Öffentlichkeit sei ohnehin schon lange ausgeblieben, hatte man ihr gesagt. Und natürlich fühle man sich geehrt, so hatte man diskret versichert, dass die Regierungschefin an Ort und Stelle ein sportliches Vorbild abgeben wolle, wenn auch gänzlich privat.
»Oh, hier links, nein, doch rechts.« Er fuhr viel zu schnell. Das war das Einzige, das sie verlässlich sagen konnte, denn von dort, wo sie saß, konnte sie nicht nach vorne schauen, |167| ohne sich allzu weit nach links oder rechts zu lehnen. Am schlimmsten war es in den Kurven. Außerdem
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