Die Eisläuferin
Er hatte ihm von Dimitrijs Therapieansätzen erzählt und zu bedenken gegeben, dass seine Frau momentan recht beeindruckende Fortschritte mache, auch wenn das vorübergehende Begleiterscheinungen habe. Er wisse schließlich – und das hatte er ein wenig verdrießlich hinzugefügt –, wovon er spreche. Sie verlange einem eben viel ab. Doch schließlich gehe es doch um ihre Persönlichkeit. Bei den Inhalten könne er nicht so mitreden.
Genau damit hatte er jedoch das Fass zum Überlaufen gebracht, denn der MAV hatte seinen Oberkörper auf die Tischplatte geworfen und ihm aus etwa zwanzig Zentimeter Entfernung zugeraunt: »Die Persönlichkeit! Genau das ist es doch! Ich sage Ihnen jetzt einmal was: Unser Geheimdienst ist immer noch an dieser Klinik dran. Denken Sie an die medizinischen Möglichkeiten heutzutage! Da sind Manipulationen des Gehirns längst Routine! Von wegen Gedächtnisverlust.«
»Hören Sie, sie ist vielleicht vom Werdegang her ein bisschen anders sozialisiert, aber gleich so?«
»Ach was, heute können Hirne mit darin platzierten Elektroden stimuliert und Teile der Hirnfunktionen verfügbar gemacht werden. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen das jetzt einmal so vor Augen führe, aber ich sage Ihnen: Da handelt es sich um Geräte, die man ein- und ausschalten kann!«
Ob er meine, dass seine Frau gerade eingeschaltet sei, hatte er gefragt.
»Das weiß ich nicht. Ich gebe nur zu bedenken, dass wir eine Manipulation nicht ausschließen können. Ich möchte |176| Sie bitten, nochmals genau hinzuschauen. Kommt Ihre Frau Ihnen irgendwie fremd vor? Gibt es Spuren eines, nun ja, operativen Eingriffs? Ich bitte Sie hier um Ihre Mitarbeit.«
Nun, hatte er versichert, er kooperiere ja schon, seit seine Frau ihr Amt bekleide, sein ganzes Leben sei ja zu einer einzigen Kooperation geworden, warum nicht auch hier. Er konnte sich allerdings nicht verkneifen zu bemerken, dass sich das alles schon ein wenig nach Honeckers später Rache anhöre.
Damit hatte er den MAV jedoch nicht sonderlich erheitern können, dafür war die Lage viel zu ernst.
Dessen Vorschlag, den Therapeuten unmittelbar zu entlassen, hatte er hingegen ganz und gar nicht lustig gefunden. Und dass er selbst seine Liebe zu Pfirsichen entdeckt hatte, das hätte er dem MAV wohl unmöglich sagen können.
Es zwickte wieder im Nacken. Sie lockerte den Helm leicht. So kurz vor Mittag wurden die Straßen voller, die Luft schlechter. An einer roten Ampel schlängelte Dimitrij sich mit ihr vorsichtig durch die wartenden Autoreihen. Sie kamen neben einem gelben Kleinwagen zum Stehen, und der Junge auf der Rückbank machte eine Fratze, steckte ihr die Zunge heraus. Sie tat es auch, und merkte es zu spät.
Herr Bodega hatte seine Pilotensonnenbrille in ihrer Wohnung vergessen, und die trug sie nun, zusammen mit dem blauen Motorradhelm. Sie kam sich schon ein wenig verkleidet vor, und das wiederum schien Folgen auf ihr Verhalten zu haben. Sonnenbrillen gehörten nicht gerade zu ihrer Grundausstattung, sie verdunkelten die Sicht auf die Dinge, fand sie. Schließlich war sie nicht in irgendwelchen Truppentransportern unter brennender Sonne unterwegs. Sie saß lediglich auf dem Sozius eines Motorrades und fuhr |177| durch die Stadt. Doch genau hier fing wohl die Daseinsberechtigung der Brille auf ihrer Nase an. Da konnte man schon einen Blick wagen und ein wenig mehr aus sich herauskommen.
Die Ampel schaltete auf Grün, und Dimitrij gab Gas. Sie ließen den gelben Kleinwagen schnell hinter sich.
Sie musste zugeben, dass sie schon ein wenig aufgeregt war, da war so etwas wie ein Glücksgefühl, bemerkenswert. Zumindest war sie sich sicher, eine höchst geeignete Erinnerung für den nächsten Tag gewonnen zu haben. Diese Unternehmung war keines dieser wirkungsneutralen Dinge gewesen, die sie sonst so anstellte und am nächsten Tag vergessen hatte. Sie überlegte. Vielleicht war es auch die Erleichterung, heile vom Eis gekommen zu sein, oder die Vorfreude auf anstehende Erinnerungen. Aber Glück? Sicher, man musste damit rechnen. Mein Gott, musste er erst aufs Eis mit ihr gehen, um das aus ihr herauszuholen? Wer wusste überhaupt, was anderer Leute Glück sein mochte, geschweige denn das eigene? Die Umstände, unter denen dieses Gefühl in ihr entstanden war, waren doch recht ungewöhnlich gewesen, dachte sie, hatten etwas sehr Spontanes, ja fast schon Archaisches gehabt. Vielleicht war diese Regung dann doch nichts weiter als ein simpler Reflex, eine
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