Die Eisprinzessin schläft
sagten, hat sich Nils Lorentz an Alex vergriffen, und sie behaupteten, daß auch Anders betroffen gewesen war.«
Vera saß steif wie ein Stock auf der äußersten Kante des Küchenstuhls, und sie antwortete nicht auf seine Äußerung, eine Äußerung, die als Frage gedacht war. Er beschloß zu warten, und nach mehreren Minuten inneren Kampfes schlug sie langsam das Album zu und stand vom Stuhl auf.
»Ich will nicht über alte Geschichten reden. Ich will, daß Sie jetzt gehen. Wenn Sie Maßnahmen ergreifen wollen wegen dem, was ich in Anders’ Wohnung gemacht habe, dann wissen Sie ja, wo ich zu finden bin, aber ich habe nicht vor, Ihnen zu helfen, in Dingen zu wühlen, die man am besten begraben sein läßt.«
»Nur eine Frage noch: Haben Sie mit Alexandra jemals darüber geredet? Soviel mir bekannt ist, wollte sie das, was geschehen war, aufrollen, und da wäre es nur natürlich, wenn sie auch mit Ihnen gesprochen hätte.«
»Ja, das hat sie getan. Ich habe dort in ihrem Haus gesessen, vielleicht eine Woche bevor sie starb, und habe mir ihre naiven Vorstellungen angehört. Daß sie mit der Vergangenheit aufräumen und alle Leichen aus dem Keller holen will und so weiter und so weiter. Moderner Blödsinn, meine ich. Heute scheinen alle besessen davon zu sein, ihre schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen, und behaupten noch, es sei gesund, seine Geheimnisse und Sünden bloßzulegen. Aber bestimmte Dinge sollten auch weiterhin privat bleiben. Das habe ich auch zu ihr gesagt. Ich weiß nicht, ob sie auf mich gehört hat, aber ich hoffe es. Sonst hätte mir meine Mühe nur eine hartnäckige Blasenentzündung eingebracht von dem Sitzen dort in ihrem saukalten Haus.«
Damit signalisierte Vera deutlich, daß die Diskussion zu Ende war, und ging in den Flur hinaus. Sie öffnete Patrik die Tür und verabschiedete sich äußerst kühl.
Als er sich wieder draußen in der Kälte befand, die Mütze tief über die Ohren gezogen und die Fäustlinge an den Händen, wußte er buchstäblich nicht, auf welchem Fuß er stehen sollte. Er hüpfte umher, um warm zu werden, und ging dann rasch zum Auto.
Vera war eine komplizierte Frau, soviel hatte er bei ihrem Gespräch verstanden. Sie gehörte einer anderen Generation an, aber befand sich dennoch in vieler Hinsicht im Konflikt mit deren Werturteilen. Bis zu Anders’ Tod hatten beide von ihrer Hände Arbeit gelebt. Selbst nachdem der Sohn erwachsen war und allein hätte klarkommen sollen, hatte sie ihm unter die Arme gegriffen. Sie war in gewisser Weise eine emanzipierte Frau, die all die Jahre ohne Mann zurechtgekommen war, aber zugleich war sie an jene Regeln gebunden, die für Frauen und übrigens auch für Männer ihrer Generation galten. Patrik konnte nicht umhin, eine gewisse Bewunderung für sie zu empfinden.
Er wußte nicht, welche Folgen es für Vera haben könnte, daß sie Anders’ Tod als Mord kaschiert hatte. Er mußte das Polizeirevier auf jeden Fall informieren, aber was dann passieren würde, war ihm völlig unklar. Wenn er etwas zu sagen hätte, würden sie ein Auge zudrücken, aber er konnte nicht versprechen, daß es genauso geschah. Rein gesetzlich gab es die Möglichkeit, sie etwa wegen Behinderung der Ermittlungen anzuklagen, aber er hoffte sehnlichst, daß es nicht dazu kam. Er mochte Vera, das ließ sich nicht leugnen. Sie war eine Kämpfernatur, und solche Menschen gab es nicht viele.
Als er im Auto saß und das Handy einschaltete, entdeckte er, daß eine Nachricht auf ihn wartete. Es war Erica, die ihn angerufen hatte. Sie teilte mit, daß drei Damen und ein sehr, sehr kleiner Herr darauf hofften, daß er mit ihnen zu Abend esse. Patrik schaute auf die Uhr. Es war schon fünf, und er kam ohne weitere innere Diskussion zu dem Schluß, daß es sowieso schon zu spät sei, ins Revier zu fahren, und was sollte er schon zu Hause? Bevor er den Motor anließ, rief er Annika an und erzählte kurz, womit er sich tagsüber beschäftigt hatte, aber er ließ die Details aus, weil er die Sache im Zusammenhang berichten wollte, wenn er Mellberg Auge in Auge gegenübersaß. Er wollte um jeden Preis verhindern, daß die Situation mißverstanden und von Mellberg, nur zu dessen eigenem Vergnügen, eine enorme Operation in Gang gesetzt würde.
Als er zu Erica zurückfuhr, kreisten seine Gedanken unentwegt um den Mord an Alex. Es frustrierte ihn, daß er auf eine weitere falsche Spur gestoßen war. Zwei Morde ergaben eine doppelt so große Chance, daß der
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