Die Eisprinzessin schläft
Stapel, dessen Höhe zusehends abnahm. Nach einiger Zeit, als weitere Informationen über das Schicksal von Nils ausblieben, hatte sich das Interesse gelegt, und man kam immer seltener auf das Thema zurück. Auch Nelly tauchte im Laufe der Jahre immer seltener in den Klatschspalten auf, und in den Neunzigern wurde sie kein einziges Mal erwähnt. Fabians Tod im Jahre 1978 hatte zu einem großen Nachruf in der »Bohuslän Tidning« geführt, und darin waren die üblichen Floskeln von der Stütze der Gesellschaft und dergleichen zu lesen. Das war auch das letzte Mal, daß sein Name genannt wurde.
Der Adoptivsohn Jan war indessen immer öfter Gegenstand des Interesses. Nach Nils’ Verschwinden war er der einzige Erbe des Familienbetriebs und übernahm, volljährig geworden, sofort den Direktorposten. Unter seiner Leitung florierte das Unternehmen weiter, und nunmehr konnte man in den Klatschspalten häufig von ihm und seiner Frau Lisa lesen.
Patrik hielt inne. Ein Blatt war auf den Boden gefallen. Er beugte sich hinunter, um es aufzuheben, und studierte es dann äußerst aufmerksam. Der Artikel war über zwanzig Jahre alt und enthielt eine ganze Reihe aufschlußreicher Informationen über Jan und sein Leben, bevor er bei der Familie Lorentz gelandet war. Beunruhigende, aber auch interessante Informationen. Das Leben des Jungen mußte sich bei der Familie Lorentz radikal verändert haben. Die Frage war nur, ob Jan sich ebenso radikal verändert hatte.
Mit energischem Griff nahm Patrik das ganze Bündel und stauchte es in Form. Er überlegte, was er jetzt tun sollte. Bisher hatte er nicht mehr als seine - und Ericas - Intuition zur Verfügung. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, legte die Beine auf den Schreibtisch und faltete die Hände im Nacken. Mit geschlossenen Augen versuchte er seine Gedanken zu ordnen, um die vorhandenen Alternativen gegeneinander abzuwägen. Die Augen zu schließen war ein Fehler. Seit letztem Samstag sah er dann sofort Erica vor sich.
Er zwang sich, die Augen wieder aufzumachen, und richtete den Blick auf den deprimierend grünen Beton der Wand. Das Polizeigebäude stammte aus den frühen siebziger Jahren und war vermutlich von jemandem entworfen worden, der sich auf staatliche Institutionen spezialisiert hatte, bei denen er seine Vorliebe für Rechteckigkeit, Beton und schmutzgrüne Anstriche verwirklichen konnte. Patrik hatte versucht, das Büro mit einigen Blumentöpfen auf dem Fensterbrett und ein paar gerahmten Plakaten an der Wand zu beleben. Als er noch verheiratet war, hatte auf dem Schreibtisch ein Foto von Karin gestanden, und obwohl die Platte seit damals viele Male abgestaubt worden war, meinte er an der betreffenden Stelle noch immer den Abdruck des Bildes zu sehen. Trotzig stellte er den Bleistiftständer dorthin und widmete sich rasch wieder der Erwägung aller Schritte, die das Material ermöglichte.
Eigentlich hatte er nur zwei Möglichkeiten, um zu reagieren. Die erste Alternative war, dieser Spur auf eigene Faust nachzugehen, was bedeutete, daß er es in seiner Freizeit tun mußte, da Mellberg ständig für eine Arbeitsbelastung sorgte, die ihn zwang, von morgens bis abends wie ein Wilder durch die Gegend zu flitzen. Er hätte es sich eigentlich nicht leisten können, die Artikel jetzt während der Dienstzeit durchzusehen, daß er es dennoch getan hatte, beruhte auf einem Anfall von Aufsässigkeit. Dafür würde er bezahlen müssen, indem er den größten Teil des Abends mit Schreibkram verbrachte. Es lockte ihn wenig, das bißchen Freizeit, das er besaß, auch noch zu opfern, um Mellbergs Arbeit zu erledigen, also sollte er vielleicht Alternative zwei vorziehen.
Wenn er zu Mellberg ging und ihm die Sache auf die rechte Weise schmackhaft machte, würde er vielleicht die Erlaubnis erhalten, die Ermittlung in dieser Richtung während der Arbeitszeit zu führen. Mellbergs Eitelkeit war sein schwächster Punkt, und wenn man den Mann schlau bearbeitete, könnte man vielleicht seine Zustimmung erwirken. Patrik war sich im klaren, daß der Kommissar den Fall Alex Wijkner als sichere Rückfahrkarte ins Göteborger Dezernat betrachtete. Selbst wenn Patrik nach dem, was er gehört hatte, glaubte, daß für Mellberg alle dorthin führenden Brücken abgerissen waren, so konnte er die Sache vielleicht für seine Zwecke nutzen. Wenn er den Zusammenhang mit der Familie Lorentz ein bißchen übertrieb, indem er andeutete, er habe den Tip bekommen, daß Jan der Vater des Kindes sei,
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