Die Eisprinzessin schläft
Es war aus feinem dänischen Porzellan. Blaue Blumen auf weißem Grund, die im Laufe der Jahre kaum an Farbe eingebüßt hatten. Jetzt war nur noch diese Tasse übrig. Solange Arvid am Leben war, hatten sie das Service nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt, doch nach seinem Tod war es ihr witzlos erschienen, einen Unterschied zwischen Alltag und Fest zu machen. Durch den natürlichen Verschleiß war im Laufe der Zeit einiges kaputtgegangen, den Rest hatte Anders bei einem Deliriumsanfall vor mehr als zehn Jahren zertrümmert. Diese übriggebliebene Tasse war ihre liebste Habe.
Genußvoll trank sie von dem Kaffee. Als nur noch ein Schluck übrig war, goß sie den Rest auf die Untertasse und schlürfte ihn durch das Stück Zucker, das sie zwischen die Zähne geklemmt hatte. Ihre Beine waren schlapp und schmerzten nach einem ganzen Tag Putzen, und sie hatte sie auf den vor ihr stehenden Stuhl gelegt, um sie ein bißchen zu entlasten.
Das Haus war klein und schlicht. Hier wohnte sie jetzt bald vierzig Jahre, und sie hatte vor, hier weiter wohnen zu bleiben bis zu dem Tag, an dem sie starb. Eigentlich war es nicht besonders praktisch. Das Haus lag ganz oben an einem steilen Hang, und oft mußte sie auf dem Heimweg mehr als einmal stehenbleiben, um nach Luft zu schnappen. Die Jahre hatten dem Haus auch ziemlich zugesetzt, und es wirkte innen und außen ramponiert und verschlissen. Die Lage war jedoch recht gut, und sie würde ein ansehnliches Sümmchen erhalten, wenn sie es verkaufen und statt dessen in eine Wohnung ziehen würde. Dieser Gedanke war ihr jedoch fremd. Lieber sollte alles um sie herum verrotten, als daß sie auszog. Hier hatte sie schließlich mit Arvid gelebt, die wenigen glücklichen Jahre, die ihre Ehe dauerte. In dem Bett im Schlafzimmer hatte sie zum erstenmal woanders als im Elternhaus geschlafen. In der Hochzeitsnacht. Im selben Bett war Anders gezeugt worden, und als sie hochschwanger war und nur noch auf der Seite liegen konnte, war Arvid ganz dicht an sie herangerückt, hatte hinter ihrem Rücken gelegen und ihr den Bauch gestreichelt. Hatte ihr ins Ohr geflüstert, wie ihr gemeinsames Leben aussehen würde. Hatte von all den Kindern gesprochen, die bei ihnen aufwachsen würden, von all dem fröhlichen Lachen, das in den nächsten Jahren in den Zimmern erklänge. Und wenn sie dann alt wären und die Kinder aus dem Haus, säßen sie beide in ihrem Schaukelstuhl vor dem Kamin und redeten darüber, was für ein wundervolles Leben sie doch gehabt hätten. Damals waren sie nur wenig über zwanzig gewesen und konnten sich nicht vorstellen, was hinter dem Horizont auf sie wartete.
Hier an diesem Küchentisch hatte sie gesessen, als der Bescheid kam. Wachtmeister Pohl hatte mit der Mütze in der Hand an die Tür geklopft, und sobald sie ihn sah, wußte sie, was folgen würde. Als er zu reden begann, hatte sie ihm mit dem Finger auf dem Mund bedeutet, er möge schweigen, und ihn dann in die Küche gewiesen. Sie watschelte hinterher, im neunten Monat schwanger, machte langsam und methodisch einen Kessel Kaffee zurecht und setzte ihn auf. Während sie darauf warteten, daß das Getränk fertig wurde, hatte sie da gesessen und den Mann angesehen, der ihr gegenübersaß. Er hingegen brachte es nicht fertig, sie anzuschauen. Statt dessen ließ er den Blick über die Wände wandern und zupfte zwanghaft seinen Kragen zurecht. Erst als vor jedem eine Tasse dampfend heißer Kaffee stand, bedeutete sie ihm weiterzureden. Noch immer hatte sie selbst kein Wort gesagt. Sie lauschte einem Summen im Kopf, das immer lauter wurde. Sie sah, daß sich der Mund des Wachtmeisters bewegte, aber nicht ein Wort drang durch den Mißklang in ihrem Kopf. Sie brauchte es nicht zu hören. Sie wußte, daß Arvid jetzt auf dem Grund des Meeres lag und sich im Takt mit dem Seegras wiegte. Worte konnten das nicht ändern, konnten die Wolken nicht vertreiben, die sich jetzt am Himmel sammelten, bis alles nur noch eine einzige graue Masse war.
Vera seufzte, als sie jetzt, viele Jahre später, hier am Küchentisch saß. Andere Leute, die nahe Angehörige verloren hatten, sagten, das Bild der Lieben werde mit der Zeit immer undeutlicher. Bei ihr war es genau umgekehrt. Arvids Bild wurde immer klarer, und manchmal sah sie ihn so deutlich vor sich, daß der Schmerz sich wie ein stählernes Band um ihr Herz legte. Es war sowohl Segen als auch Qual, daß Anders ein lebendiges Abbild von Arvid war. Sie wußte, wenn ihr Mann hätte leben
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