Die Eissphinx
keiner gefunden hat, was er suchte, weder der Kapitän Len Guy seinen Bruder, noch wir unsere Landsleute oder Dirk Peters seinen armen Pym!«
Das war alles wahr… die Quintessenz unserer Mühsal und Beschwerden und unserer Enttäuschungen! Ohne von der vernichteten »Halbrane« zu reden, hatte die Fahrt schon neun Opfer gekostet. Von zweiunddreißig Mann, die sich auf der Goëlette eingeschifft hatten, waren nur noch dreiundzwanzig übrig, und wer weiß, wie weit sich diese Zahl ferner verringern sollte.
Vom Südpol bis zum Polarkreise rechnet man einige zwanzig Grade (genauer 23°27’), d. h. gegen zwölfhundert Seemeilen, die binnen eines Monats oder höchstens sechs Wochen zurückgelegt werden mußten, wenn sich das Packeis nicht vorher neu bilden und dessen Wall schließen sollte. Eine Ueberwinterung in diesem Theile des Polargebietes hätte wohl kaum einer von uns überlebt.
Uebrigens hatten wir jede Hoffnung verloren, die Ueberlebenden von der »Jane« wiederzufinden, und die Mannschaft legte nur das Gelübde ab, dieser entsetzlichen Einöde baldmöglichst zu entfliehen. Früher südlich, wie unsere Abtrift bis zum Pole gewesen, war sie jetzt zu einer nördlichen geworden, und im Falle, daß sie aushielt, winkten uns jetzt vielleicht für so viele schlechte, auch einmal wieder bessere Aussichten.
»Ein Stoß… paff! die vier Eisen in der Luft…« (S. 365.)
Auf jeden Fall mußten wir freilich – um einen familiären Ausdruck zu gebrauchen – »den Dingen einfach ihren Lauf lassen«.
Uns konnte es ja gleichgiltig sein, ob das Meer, dem unser Eisberg zutrieb, der Südatlantische oder der Stille Ocean war, ob die nächstgelegenen Länder statt der Südorkneys, der Falklands, des Cap Horn oder der Kerguelen vielleicht Australien oder Neuseeland waren.
Deshalb hatte Hurliguerly auch ganz recht, wenn er – zu seinem lebhaften Bedauern – sagte, daß es nicht beim Gevatter Atkins und in der Gaststube des »Grünen Cormoran« sein werde, wo ihm bei der Heimkehr das erste Glas winken würde.
»Uebrigens, Herr Jeorling, wiederholte er mir öfters, giebt es auch vortreffliche Gasthäuser in Australien, wie in Hobart-Town, in Dunedin und anderswo. Es handelt sich nur darum, glücklich einen Hafen zu erreichen!«
Da der Nebel sich auch am 2., 3. und 4. Februar nicht gelichtet hatte, wäre es schwierig gewesen, die Lageveränderung unseres Eisbergs nach Ueberschreitung des Pols abzuschätzen. Der Kapitän Len Guy und Jem West glaubten sie indeß auf zweihundert Seemeilen veranschlagen zu dürfen.
Die Strömung schien sich in der That weder in der Schnelligkeit noch in der Richtung verändert zu haben. Da wir durch einen Meeresarm zwischen den zwei Hälften des vermuthlichen Festlandes – der einen im Osten, der andern Hälfte im Westen – die das weite Landgebiet des Südpols bilden, dahinglitten, erschien das nicht zweifelhaft. Ich bedauerte es auch lebhaft, nicht die eine oder die andere Küste dieses Sundes betreten zu können, dessen Oberfläche im bevorstehenden Winter bald erstarren sollte.
Bei einem darüber geführten Gespräch mit dem Kapitän Len Guy gab mir dieser darauf die logisch einzig richtige Antwort:
»Ich bitte Sie, Herr Jeorling, wir sind ja ganz machtlos! Hierbei ist nichts zu thun, und das, worin ich vor allem das Mißgeschick, das uns seit mehreren Tagen arg mitspielt, erkenne, das ist die Andauer dieser schweren Nebel. Ich weiß nicht mehr, wo wir sind. Ein Besteck zu machen, ist ganz unmöglich, und das gerade zur Zeit, wo die Sonne bald für lange Monate verschwinden wird.
– Ich komme immer auf das Boot zurück, erwiderte ich. Sollte man nicht mit diesem…
– Auf Entdeckungen ausziehen können? Was denken Sie! Das wäre eine Unbesonnenheit, die ich nicht begehen würde und die mich die Mannschaft gar nicht begehen ließe!«
Ich war nahe daran auszurufen:
»Und wenn nun Ihr Bruder William Guy, wenn sich Ihre Landsleute nach einem Punkte dieser Gebiete geflüchtet hätten?…«
Ich bezwang mich aber. Was konnte es nützen, den Schmerz unseres Kapitäns wieder zu erneuern? An jene Möglichkeit hatte er gewiß auch gedacht, und wenn er auf die Weiterverfolgung seiner Nachsuchungen verzichtete, so mußte er sich wohl auch von der Nutzlosigkeit eines letzten zu unternehmenden Versuchs überzeugt haben.
Uebrigens leitete ihn – und das eröffnete noch einen leichten Hoffnungsschimmer – vielleicht folgender Gedankengang, der nicht unberechtigt schien:
William Guy
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