Die Elementare von Calderon
verscherzt, von dem er eigentlich gar nicht gewusst hatte, dass er ihn besaß. Bernard hatte sich ihm gegenüber nie benommen wie die anderen - hatte nie Mitleid gezeigt, weil er nicht über die Fähigkeit der Elementarbeschwörung verfügte, war nie auf diesem Makel herumgeritten. Stattdessen hatte sich, vor allem während der letzten Monate, eine Art von Kameradschaft entwickelt, wie Tavi sie mit niemand anderem teilte, ein stiller und unauffälliger Bund, bei dem ihn sein Onkel kaum mehr wie den Jüngeren, wie das Kind behandelte. Diese Beziehung war während der vergangenen Jahre langsam gewachsen, in der Zeit, in der er bei seinem Onkel in die Lehre gegangen war.
Das war vorbei. Noch bevor Tavi dieses Vertrauen überhaupt bewusst geworden war, hatte er es wieder verloren.
Ebenso wie die Schafe.
Und außerdem seine gesamten Hoffnungen für die Zukunft, für seine Flucht aus diesem Tal, für seine Flucht vor diesem Status als Missgeburt ohne Elementar, als ungewollter Bastard aus dem Legionslager.
Vor lauter Tränen verschwamm die Welt, trotzdem kämpfte er still dagegen an. Er sah seinen Onkel nicht mehr, sein ungeduldiges Fauchen konnte er allerdings deutlich vernehmen. »Tavi.«
Er hörte nicht, wie Amara losging, bis er selbst hinter seinem Onkel vorwärtstaumelte. Er setzte blind einen Fuß vor den anderen, und der Schmerz in seinem Herzen plagte ihn schlimmer als alle Wunden, die ihm am gestrigen Tag beigebracht worden waren.
Tavi ging, ohne aufzusehen. Es spielte keine Rolle, wohin ihn seine Füße trugen.
Er hatte sowieso kein Ziel mehr.
15
Für Amara erwies sich der Weg nach Bernardhof als lange und zähe Übung im Erdulden von Schmerzen. Auch wenn sie Tavi am Morgen etwas anderes gesagt hatte, war der Knöchel, den sie sich bei der wilden Landung im Sturm heute Nacht verletzt hatte, inzwischen steif geworden und schmerzte so heftig, dass sie ihn kaum belasten konnte. Ähnlich ging es ihr auch mit dem Schnitt, den Aldrick ex Gladius ihr im Lager der Rebellen zugefügt hatte. Sobald es ihr gelang, die eine Verletzung zu ignorieren, drängte
sich ihr die andere ins Bewusstsein. Und trotzdem galt ihr Mitgefühl vor allem dem Jungen, der vor ihr trottete.
Sein Onkel hatte gar nicht unbedingt wütend reagiert, dachte sie zunächst. Viele Männer hätten den Jungen einfach verprügelt und erst danach ihre Gründe dafür preisgegeben, wenn überhaupt. Doch je länger sie unterwegs waren, desto deutlicher wurde ihr bewusst, wie tief Tavi die Worte seines Onkels getroffen hatten - oder vielleicht eher die Worte, die er nicht gesagt hatte. Tavi war daran gewöhnt, freundlich und mit einem gewissen Respekt behandelt zu werden. Die ruhige, kühle Distanziertheit des Wehrhöfers war für den Jungen neu und hatte ihn verletzt - vor allem hatte sie all seine Hoffnungen für die Zukunft an der Akademie zerstört und ihm klargemacht, dass er ohne Elementarbeschwörung nur ein hilfloses Kind und zudem eine Gefahr für sich und andere war.
Und hier an der wilden Grenze des Reiches der Menschen, wo Leben und Tod vom täglichen Kampf gegen feindselige Elementargeister und Tiere abhingen, stimmte diese Einschätzung vielleicht sogar.
Amara schüttelte den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Steine des Dammwegs unter ihren Füßen. Obwohl sie durchaus Mitleid für den Jungen empfand, durfte sie sich durch sein Elend nicht von ihrer Aufgabe ablenken lassen, die darin bestand, die Vorgänge im Tal aufzudecken und die Interessen des Reiches so gut wie möglich zu schützen. Längst hatte sie sich einige Dinge zusammengereimt, und darauf sollte sie sich lieber weiterhin konzentrieren.
Die Marat waren wieder einmal, zum ersten Mal nach fast siebzehn Jahren, ins Calderon-Tal eingedrungen. Der Maratkrieger, dem Tavi und sein Onkel begegnet waren, konnte durchaus der Kundschafter einer ganzen Horde sein.
Aber im zunehmenden Licht des Tages erschien ihr diese Möglichkeit immer unwahrscheinlicher, da ihr einige Widersprüche
auffielen. Falls die beiden tatsächlich einen Marat gesehen hatten, warum ließ sich der Onkel keinerlei Erleichterung anmerken, seinen vermissten Neffen lebend gefunden zu haben? Und überhaupt, wieso stand der Wehrhöfer bereits wieder auf den Beinen? Wären die Wunden tatsächlich so schwer gewesen, wie Tavi beschrieben hatte, hätte es des Eingreifens eines fähigen Wasserwirkers bedurft, um Bernard so schnell zu heilen, und Amara konnte sich so fern der großen Städte niemanden
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