Die elfte Geißel
offiziell feststellen, dass er nicht erschienen war. Sein Anwalt würde irgendeinen vorgetäuschten Grund geltend machen, um die Verhandlung zu vertagen, und er würde vergeblich versuchen, ihn zu erreichen.
Er wusch sich das Gesicht und hielt seine Haare unter den Hahn. Böse Zungen flüsterten, sein Verschwinden sei ein Schuldeingeständnis. Er kämmte sich und pflanzte sich vor dem winzigen Spiegel auf. Es war ihm egal. Das Einzige, was jetzt zählte, war seine Flucht und der Sinn, den er ihr gab.
Er zählte die Personen, denen er vertrauen konnte. Eine. Zwei, wenn er mit seinem Urteil richtig lag. Er war ihr erst vor Kurzem begegnet, aber er spürte, dass eine enge Verbindung zwischen ihnen entstanden war. Eine Verbindung, die er nicht erklären konnte.
Als er die Telefonnummer wählte, beschloss er, das Risiko einzugehen.
»Hallo? Sylvain Carrère? Hier ist Alain Broissard.«
28
Paris,
Quai des Orfèvres 36,
Sondereinheit
Léo wachte in seinem Büro auf, vollkommen desorientiert wie beim ersten Wimpernschlag nach einer durchzechten Nacht. Er streckte sich und warf die alte Wolldecke, in der er geschlafen hatte, in eine Ecke. Noch immer leicht benommen, ging er zur Toilette, um sich das Gesicht zu waschen, und säuberte sich, als er seinen Kopf in ein mit kaltem Wasser gefülltes Waschbecken tauchte, von Schlaf, Schweiß und Traumresten. Da ihm der Magen knurrte, ging er vor die Tür, um im Quartier Latin eine Bäckerei zu plündern. Zurück in der Dachwohnung, tunkte er das Feingebäck in eine große Schale Kaffee und nahm das Porträt von Julia Verno in die Hand. Das Gesicht war mit Bleistift gezeichnet, und sie lächelte fast darauf.
Mindestens ein Kind war auf französischem Hoheitsgebiet gekidnappt worden, und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass die anderen das gleiche Schicksal erlitten hatten. Dank dieser Gewissheit ließen sich viele Fragen beantworten, wie in einer Kettenreaktion. Darunter auch die wichtigste: Der Film war zweifellos in Frankreich gedreht worden.
Das schrille Läuten des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Uhr zeigte sieben Uhr morgens an. Draußen war es noch immer stockfinster. Wer konnte ihn so früh anrufen?
»Léopold? Hier ist Zoé Hermon.«
»Verdammt noch mal, wissen Sie, wie spät es ist?«
»Endlich erreiche ich dich«, sagte sie, ohne ihm die Zeit zu lassen, zu sprechen. »Ich habe es bei dir zu Hause versucht, aber da ging niemand dran. Ich wollte mich nur vergewissern, dass du meine Schlussfolgerungen gelesen hast.«
Léo schwieg einige Sekunden lang. Am anderen Ende der Leitung wurde ein dringlicherer Ton angeschlagen.
»Die E-Mail, die ich dir geschickt habe. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan ...«
»Nein, ich habe noch ...«
»Der Hintergrund.«
»Was ist mit dem Hintergrund?«, entfuhr es Léopold, der nicht verstand, worauf Zoé hinauswollte.
»Als du mir die Akte des Falles gegeben hast, habe ich versucht herauszufinden, ob das Set keine Hinweise enthält, die es erlauben, den Tatort zu ermitteln. Die Wände, die Beleuchtung, irgendetwas, was uns weiterhelfen kann. Ich habe Stunden im Bildlabor verbracht, ohne etwas zu finden.«
Das Telefon gegen die Schulter geklemmt, öffnete Léo die Datei, die an die E-Mail von Zoé angehängt war. Sie hatte Neverland auf eine frei verfügbare Software überspielt, eine Weiterentwicklung von After Effects, und die Konturen der auf dem Filmstreifen abgelichteten Figuren markiert, um sie aus dem Bild zu entfernen. Léo klickte, und zuerst wurden die Kinder gelöscht. Die maskierten Männer erstarrten in einem grotesken Tanz, einem wütenden Hexensabbat, allerdings ohne die Körper, an denen sie sich vergingen. Dann blieb nur noch das reine, entschlackte »Szenenbild«.
»In der Annahme, dass der Film vielleicht schon etwas älter ist«, fuhr Zoé fort, aus der es nur so hervorsprudelte, »habe ich mir die alten Fälle bis in die neunziger Jahre hinein noch einmal vorgeknöpft. Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Ich habe die Recherchen auf die Pornofilme ausgedehnt und schon geglaubt, auf dem falschen Dampfer zu sein, bis ich die Ortsbeschreibungen miteinander verglich.«
»Haben Sie etwas gefunden? Einen Ort, auf den die Beschreibung passt?«, fragte Léo mit trockenem Mund, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.
»Volltreffer! Drei Pornofilme wurden von einem gewissen Gaspard Fogeti in einem Keller gedreht. Seine Frau und er hatten ein Haus in Marne-la-Vallée gekauft.«
»Moment mal,
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