Die elfte Jungfrau
Sankt Martin war kein armes Kloster.
»Acht junge Mädchen sind seit dem August vergangenen Jahres gestorben, sechs von ihnen durch die gleiche Todesursache - ein gebrochenes Genick. Bei einer vermutet man Ertränken, die andere wurde unter einen Wagen gestoßen oder fiel selbst. Bislang nehmen die Angehörigen und Freunde an, es handele sich um Unfälle oder Selbsttötung. Eine Untersuchung ist erstmals bei dem jüngsten Fall angeordnet worden. Habe ich das richtig zusammengefasst?«
»Ja, so ist es.«
»Durch einen Zufall - ist es Zufall, Frau Almut? - habt Ihr diese Fälle miteinander in Verbindung gebracht. Welcher Zufall war es?«
Almut faltete die Hände und zauderte, dann aber sah sie dem Abt ernsthaft ins Gesicht.
»Wahrscheinlich wirklich ein Zufall, ehrwürdiger Vater. Unsere Rigmundis ist eine tief gläubige Frau, aber sie ist auch höchst empfindsam. Als wir an Eurem Hungertuch nähten, überkam sie eine Vision.«
Sie zögerte weiterzusprechen, doch Theodoricus ermunterte sie: »Was sah Eure Beginenschwester, Frau Almut? Visionen können sehr unterschiedliche Gründe haben, doch man sollte sie nicht von vorneherein als nichtig abtun.«
»Nein, wir taten es nicht. Sie sprach von den Jungfrauen - nicht den zehn auf dem Hungertuch, sondern von sieben. Und alle hielt sie für töricht, denn ihr Leben sei erloschen wie das der Lampen. Vier weitere sollten noch folgen.«
»Daraufhin suchtet Ihr nach den Jungfrauen?«
»Nein, ich tat es zunächst als harmlos ab. Aber dann kamen mir in schneller Folge die Geschichten der sieben jungen Frauen zu Ohren. Kurz darauf wurde eine Stiftsjungfer von Sankt Ursula tot aufgefunden. Das nächste Opfer war eine Freundin unserer Familie, die Parlerstochter Sanna.«
»Ich werde Euch nicht damit beleidigen, dass ich diese Zusammenhänge als unsinnig betrachte. Im Gegenteil, Frau Almut, das scheint mir äußerst, aber auch überaus bedenklich. Hat Eure Frau Rigmundis schon zuvor Visionen gehabt, die sich bewahrheiteten?«
»Ja, manchmal. Meist auf sehr harmlose Weise. Zum Beispiel sagte sie uns einmal das apokalyptische Kommen eines Drachens voraus, der die Erde bewegte, was sich als Erschütterung erwies, die unseren Stall einstürzen ließ. Aber es gab auch andere Fälle …«
»Ich kann es nicht leugnen, Frau Almut, es gibt Menschen, denen es möglich ist, Dinge zu sehen, die anderen verborgen sind. Ob es eine göttliche oder teuflische Gabe ist, wage ich nicht zu beurteilen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es für die Betroffenen eine unsägliche Belastung ist.«
»Rigmundis weiß meistens nicht, was sie sagt. Und wir haben uns angewöhnt, es ihr gegenüber nicht auszulegen.«
»Wie weise. Aber Ihr habt mit anderen darüber gesprochen.«
»Nur mit unserer Meisterin.«
»Die Getöteten waren alles Jungfrauen?«
»Sie waren zumindest alles sehr junge Mädchen, vermutlich Jungfrauen.«
»Welche weiteren Gemeinsamkeiten hatten sie noch, Frau Almut? Ihr habt mehr als nur die einfachen Tatsachen herausgefunden, und ich erinnere mich, dass Ihr in einem anderen Fall einmal durchaus schlüssige Vermutungen angestellt habt. Oder wollt Ihr sie mir nicht mitteilen?«
»Doch, schon. Aber damals hatte ich mehr in der Hand. Dies ist alles so wenig greifbar. Die meisten Opfer kenne ich nur vom Namen, die anderen flüchtig. Und sie sind so unterschiedlich, versteht Ihr? Keine gemeinsame Herkunft, keine Ähnlichkeit im Aussehen, keine Verwandtschaft oder so etwas, Sie scheinen einander auch nicht gekannt zu haben. Es gibt nur drei vage Anhaltspunkte, die sie eventuell miteinander verbinden. Einer davon betrifft Euch, ehrwürdiger Vater.«
»Das habe ich mir gedacht.«
Diese Aussage kam so unerwartet und so schnell, dass Almut verdutzt aufsah.
Theodoricus lächelte sie an.
»Nun, Ihr seid ja nicht hergekommen, um Hirngespinste mit mir zu diskutieren. Ich habe Euch als praktische Frau kennengelernt, darum nahm ich an, Ihr müsstet einen Grund haben. Wie heißt er?«
»Bruder Jakob.«
Das Lächeln verschwand schlagartig aus dem Gesicht des Abtes.
»Wie das?«
»Er kannte zumindest drei der Opfer - Gisela, Sanna und die Stiftsjungfer. Wie es mit den anderen aussieht, weiß ich nicht.«
»Er kannte drei von ihnen, aber das ist nicht genug für Euren Verdacht, stelle ich mir vor.«
»Nein, es ist noch etwas anderes. Ich glaube, wenn es einen... einen Mörder gibt, ehrwürdiger Vater, dann ist es ein Mensch, der von Sinnen sein muss.«
»Ja, das muss er.«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher