Die elfte Jungfrau
die Lippen. Offensichtlich tolerierte er zwar die Neigungen seines Bruders, befürwortete sie aber nicht.
»Peter, Mechthild, Frau Barbara meint, die Köchin hätte für Euch ein Mahl bereit. Und ich möchte mich eine Weile mit Eurem geschätzten Lehrer unterhalten.«
Bereitwillig verließen die Kinder das Schulzimmer, und Almut setzte sich auf ihren Platz.
»Ich hörte, Jakob wird Köln verlassen.«
»Ja, Frau Almut. Ich will meinen, dass es ihm ganz gut tun wird, eine anstrengende Aufgabe auf dem Land zu übernehmen. Er lässt sich zu leicht von den Verlockungen der Stadt verführen. Aber er hat inzwischen der weltlichen Kleidung entsagt, beteuerte er mir.«
»Das ist recht, denn sie stand ihm nicht zu Gesicht. Dennoch, ich kann sogar Verständnis finden für seinen Hang zu farbenfroher Gewandung. Die Regeln des Ordens sind streng, und es mag sich mancher irgendwo ein winziges Schlupfloch suchen, in dem er seine persönliche Freiheit findet. Der eine im Wein, der andere im reichen Mahl. Oder auch im Studium verbotener Schriften oder in den Freuden der Badestuben.«
»Ihr versteht das, Frau Almut? Ihr seid weise über Euer Alter hinaus. Ja, so ist es wohl. Unser Vater war sehr streng mit uns und bestrafte Verfehlungen hart. Ich hatte weniger darunter zu leiden, denn ich bin vermutlich ernsthafter veranlagt als Jakob. Er war immer schon leichtlebiger, begehrlich danach, bewundert zu werden, den weltlichen Freuden zugeneigt. Unser Vater mochte hoffen, das mönchische Leben könne ihn wandeln. Deshalb zwang er ihn, in den Orden einzutreten. Doch geläutert hat es ihn offensichtlich nicht.«
»Ihr habt ihn unterstützt.«
»Er tat mir leid.«
Almut nickte. Mitleid und Nachsicht waren Eigenschaften, die die Brüder teilten. Ob das immer von Vorteil war, wollte sie jetzt nicht beurteilen. Sie kam zu ihrem eigentlichen Anliegen und brachte die Sprache auf Magister Edwins vorherige Schülerin, Gisela Schiderich.
»Mein Bruder deutete schon an, Ihr würdet dazu mehr wissen wollen. Ich habe in den letzten Tagen darüber nachgedacht. Mir ist ihr Tod damals sehr zu Herzen gegangen. Sie war eine ungewöhnlich begabte und wissbegierige Schülerin. Leider war es mir gerade nur sechs Monate vergönnt, sie unterrichten zu dürfen.«
»Habt Ihr in der Zeit eine Veränderung bei ihr bemerkt?«
»Ja, das habe ich. Um die Adventszeit war es, als ihre Aufmerksamkeit nachließ. Einmal wurde ich Zeuge eines bösen Zanks, weil sie erst lange nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause gekommen war. Das war zwei Wochen vor dem Christfest. Aber ob sie sich nachts schon vorher aus dem Haus geschlichen hat, ist mir unbekannt. Weil Ihr jedoch, wie mein Bruder vermutet, einen ganz bestimmten Verdacht habt, ist mir noch eine Kleinigkeit eingefallen. Es gab etwas, über das ich mich - nun ja, nicht unbedingt geärgert hatte, aber das mich reizbar machte. Seit diesem heftigen Streit hat Gisela oft, statt auf meine Belehrungen zu hören, gedankenverloren mit einem Medaillon gespielt, das sie an einem Seidenband um den Hals trug. Ich verlor die Geduld mit ihr und fuhr sie deswegen an. Ich wollte wissen, ob ihr weltlicher Tand wichtiger sei als das Wissen, das ich ihr vermittelte. Sie hat zurückgefaucht, das sei kein weltlicher Tand, sondern ein Reliquiar mit einem Knöchelchen der heiligen Ursula.«
»Ein Ursula-Reliquiar? Die sind doch gewöhnlich recht groß?«
»Nein, nein, es war nur ein winziges Knochensplitterchen, eingefasst in ein kleines geschnitztes Elfenbeinkästchen mit einer silbernen Schließe in Form einer Rose. Ich habe es mir daraufhin zeigen lassen.«
»Und das ist Euch vorher nicht aufgefallen?«
»Nein. Aber das will sicher nichts heißen.«
»Ihr habt sie auch nicht gefragt, woher es stammte?«
»Ich nahm damals an, es sei ein Geschenk ihrer Familie. Wisst Ihr, ihr Vater gehört dem Schiffchen der heiligen Ursula an, dieser frommen Patrizier-Bruderschaft. Wie auch ihr Verlobter. Obwohl sie von der Ehe mit Hilger vom Palast nicht sehr angetan war. Auch darüber zankte man sich in der Familie häufig.«
»Magister Edwin, Gisela schien übermütig und unaufmerksam, schlich sich nachts aus dem Haus und hat ein Schmuckstück, das sie so sehr schätzte, dass sie es ständig anschaute. Zwei Tage vor Silvester verließ sie wieder heimlich das Haus …«
»Um sich mit dem Geber des Geschenkes zu treffen, einem Mann, in den sie verliebt war und der sicher nicht Hilger vom Palast hieß. Das wollt Ihr damit
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