Die elfte Jungfrau
Personen von großer Begabung. Indes - heilig ist sie wahrscheinlich wirklich nicht. Hippokrates hat bereits darauf hingewiesen, dass sie eine Störung des Gehirns ist und in verschiedenen Formen vorkommt. Manche sind harmlos, wie etwa Schlafanfälle oder Schwindel, andere aber machen den bedauernswerten Kranken zu einer Gefahr für sich und seine Umwelt. Denn bei einem Anfall verliert er die rechte Wahrnehmung und die Kontrolle über seine Glieder. Gelegentlich entwickeln solche Menschen beinahe übernatürliche Kräfte, und wenn sie in ihrem Wahn einen anderen angreifen, können sie großen Schaden anrichten. Darum ist es wichtig, sie in ihren Krämpfen festzuhalten und ihnen möglichst beruhigende Substanzen einzuflößen.«
»Kann man diese Krankheit heilen?«
»Kann ein Mensch Krankheiten heilen? Wir können Symptome lindern, Frau Almut, heilen kann sich der Körper nur selbst.«
»Und das Gebet zu Gott, unserem Herrn!«
»Ja, natürlich, Bruder Jakob.«
»Also könnt Ihr Bertram nicht helfen?«
»Empfehlt Eurer Nachbarin, sie solle mit dem Jungen zu mir kommen. Ich muss mir selbst ein Bild machen. Manchmal, wenn die Fallsucht in jungen Jahren auftritt, verschwindet sie von alleine wieder. Und manchmal sind es bestimmte Ereignisse - Bilder oder Geräusche, die die Krämpfe auslösen. Ich traf einmal einen Mann, der beim Anblick einer sich schnell drehenden Töpferscheibe solche Anfälle bekam. Man muss beobachten, Frau Almut. Und Geduld haben.«
»Ich werde es Frau Lena ausrichten. Ich bin sicher, sie wird Euch aufsuchen, Meister Krudener. Nun wollen wir unsere Waren bezahlen und heimkehren.«
Sie wickelten ihre Geschäfte ab, verabschiedeten sich und traten in den kühlen, aber sonnigen Februartag hinaus.
»Sag mal, Gertrud, was wollte denn dieser bunt gescheckte Benediktiner bei Meister Krudener?«
»Sein Bier saufen!«, antwortete die Köchin mit einem trockenen Auflachen. »Zugegebenermaßen - es schmeckt recht gut!«
Almut fiel plötzlich etwas ein, und sie grinste ebenfalls.
»Ach ja, ich erinnere mich, Pater Ivo nannte ihn ein Weinfass ohne Boden.«
»Und auch ein Bierfass ohne Boden und ein unmäßiges Naschmaul. Er hat einen ganzen Korb kandierter Kirschen gekauft!«
»Unterstellen wir ihm nicht alle diese Laster, Gertrud. Soweit ich weiß, betreut er die Nonnen von Rolandswerth als Priester, und es mag sein, er will ihnen vor der Fastenzeit noch eine kleine Freude bereiten. Er scheint mir zwar ein Geck und Saufaus zu sein, aber ich glaube, er ist auch ein gutmütiger Mann.«
»Und einer, der gerne mit den Frauen tändelt. Die Nonnen werden ihn zu schätzen wissen. Er hat mit dieser Sanna geschäkert und mit Trine geturtelt und sogar mir schöne Augen gemacht!« Noch einmal schnaubte Gertrud. »Immerhin wäre ich seinem Alter gemäß viel passender als diese beiden Jungfern!«
»Dann sollten wir ihn mal zu einem deiner Festessen einladen, Gertrud...«
»Pffft! Reicht, wenn eine von uns sich mit Mönchen abgibt!«
Almut gelang es, eine überaus giftige Antwort herunterzuschlucken. Und das war nur möglich, weil sie sich eine der kandierten Kirschen in den Mund steckte, die der Apotheker ihr mitgegeben hatte.
Gertrud bot sie keine an.
9. Kapitel
P ia schlich sich aus dem Dormitorium, in dem die fünf Novizinnen schliefen. Schwester Ermentrude, die über sie wachen sollte, war neben dem ständig brennenden Nachtlicht wie üblich eingenickt. Leise huschte sie durch die Gänge des Klosters in den ummauerten Garten. Es war kalt, und zitternd drückte sie die Arme eng an den Leib, aber der Wunsch, nach ihm Ausschau zu halten, war einfach zu groß.
Vor einem halben Jahr war Pia bei den Benediktinerinnen von Machabäern eingetreten. Sie hatte es sich inniglich gewünscht. Sie musste sich sogar gegen ihre Eltern durchsetzen, die sie eigentlich mit einem angesehenen Pelzhändler verheiraten wollten. Doch kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag hatte Pia eine himmlische Erscheinung gehabt. Sie war damals durch Zufall in die Nähe jenes Ortes geraten, wo sich die Truppen des Erzbischofs und die Stadtsoldaten ein Gefecht lieferten. Die Kämpfe waren vorbei, aber die Toten und Verwundeten lagen noch in den Feldern. Eine kleine Gruppe Nonnen hatte sich ihrer angenommen, und Pia bot, weil sie ein mitfühlendes Mädchen war, ihnen ihre Hilfe an. Und so hatte sie das erste Mal in ihrem bisher behüteten Leben einem Sterbenden die Hand gehalten.
In der Nacht darauf hatte sie die Erscheinung. Der Herr
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