Die elfte Jungfrau
Jesus selbst war auf sie zugetreten, ein von Licht umgebener, wunderschöner, nur mit einem weißen Schurz bekleideter Mann, auf dessen Haupt die Dornenkrone saß. Als er ihr die Hand reichte, erkannte sie die Nagelmale und die blutige Wunde an seiner Seite. Er bat sie, ihm zu folgen, und streichelte ihr dabei ach so zärtlich die Wange.
Sie folgte seinem Ruf. Sie wollte ihm dienen in Hingabe und Treue. Sie wollte seine Braut werden und ihn in der Gemeinschaft frommer Frauen tagein, tagaus anbeten und den Menschen eine mitleidige Pflegerin werden.
Die Schwestern fanden in ihr eine gehorsame und diensteifrige Novizin, pflichtbewusst und pünktlich, doch hin und wieder ein wenig verträumt. Doch das gab ihnen keinen Anlass zu Bedenken. Ende des Jahres würde sie den Schleier nehmen und das heilige Bündnis eingehen.
Nie wäre eine der ehrwürdigen Schwestern auf die Idee gekommen, Pias Bild von dem göttlichen Bräutigam könnte sich inzwischen gründlich gewandelt haben.
Er sah vollkommen anders aus, der Mann, der jeden Freitagabend an der Klostermauer stand und zu ihr aufblickte. Sie war ihm an Sankt Luzia begegnet, als sie mit einer der Schwestern einen Kranken besuchte. Es hatte schon gefroren, und sie war unbedacht auf das Eis einer Pfütze getreten. Mit einem: »Heilige Ursula, beschütze mich!«, war sie gegen ihn geprallt. Er hatte gelacht und sie schnell wieder losgelassen. Doch sein Blick hatte sie gefangen genommen, und obwohl sie züchtig die Augen gesenkt hatte, spürte sie ihn noch eine ganze Weile danach. Und dann war er an der Mauer aufgetaucht. Schweigend, aber mit sehnsüchtigem Blick.
Auch über ihre Lippen kam kein einziges Wort, aber ihre Wimpern flatterten, wenn sie kurz zu ihm hinsah.
Heute jedoch war er nicht gekommen. Schon wollte unsagbare Betrübnis ihr Herz umfangen, da sah sie das kleine Sträußchen auf der Mauerkrone. Ein halbes Dutzend Schneeglöckchen, mit einem feinen blauen Seidenbändchen zusammengebunden, lag auf den eisigen Steinen. Darunter ein fein zusammengefaltetes Pergamentblättchen, auf dem säuberlich geschrieben stand:
»Breit aus, breit aus den Mantel dein,
Sankt Ursula, all’ wollen wir darunter sein.
Hilf uns auf Erden
Freund Gottes werden.«
Er war da gewesen. Er hatte an sie gedacht! Er hatte ihr ein Schutz-Amulett geschickt.
Seufzend drückte sie die Blumen und das Pergament an ihr Herz.
Eines Tages … eines Tages würde sie den Mut haben, über die Mauer zu steigen und in seine Arme zu sinken.
10. Kapitel
A lmut fädelte einen Faden durch die vier Löcher des letzten der handtellergroßen Brettchen und verknotete das freie Ende. Dann legte sie es auf den Stapel der anderen. Lange Fäden hingen herab, und mit einem Seufzen machte sie sich daran, sie zu entwirren. Ursula Wevers hatte angeboten, den Beginen das Bortenweben beizubringen, und Almut wurde den Eindruck nicht los, gerade sie würde dabei an jeder Hand fünf Daumen entwickeln. Darum war sie sogar dankbar, als Pater Leonhard an ihrer Kammertür erschien, um ihr die Beichte abzunehmen.
»Ja, Pater Leonhard, natürlich habe ich gesündigt.« Sie kniete vor dem Priester, der auf dem einzigen Stuhl saß, der zur Einrichtung gehörte. Daneben gab es noch ein Bett, einen Tisch und eine Truhe für ihre Kleidung und die wenigen Besitztümer, die eine bescheidene Begine ihr Eigen nannte.
Der Priester hatte am Vormittag am Tor angeklopft und besuchte nun ein Mitglied des Konvents nach dem anderen, um sich seine Sünden anzuhören. Magda hatte angeordnet, es solle in den jeweiligen Räumen der Beginen geschehen und nicht vor der ganzen Versammlung im Refektorium. Die Tür des Zimmers hatte natürlich offen zu bleiben, aber Clara, die die Kammer neben der Almuts bewohnte, hatte taktvollerweise die ihre geschlossen. Almut würde es später genauso halten.
»Dann erleichtert Eure Seele, meine Tochter!«
»Je nun, ich war auffahrend und ungeduldig. Ich habe mich einige Male der Völlerei hingegeben. Ich habe einmal - aber nur ganz kurz - das schöne Seidenkleid meiner Schwester begehrt. Und ich habe - hm, was habe ich denn noch Sündiges getan? Ach ja, gegen die Weisung meines Vaters aufbegehrt!«
Pater Leonard war ein gut aussehender Mann, wenn er sich auch etwas zu stark in den Schultern gebeugt hielt. Er stammte aus einer verhältnismäßig betuchten Familie und war für den Pfarrsprengel von Sankt Kunibert zuständig, mit dem auch eine anständige Pfründe verbunden war. Sein langes Obergewand war
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