Die Endzeit Chroniken - Exodus (German Edition)
darauf keine Antwort geben konnte. Die Anwesenheit der Vultures schien sie weniger zu beunruhigen. Paul hatte in Zusammenarbeit mit Monroe hervorragende Verteidigungsanlagen aufstellen lassen und Gangüberfälle gehörten seit zwei Jahren der Vergangenheit an, wodurch das alte Feindbild verblasst war.
Die monotone Reise im rumpelnden Auflieger wirkte unglaublich einschläfernd, und ehe sie sich versah, fielen Cassidy die Augen zu. Sie träumte von ihrer Familie, ihrem Bruder. Zum ersten Mal seit dem Überfall sah sie ihn nicht mehr in Ketten, sondern in schwarzer Lederkleidung, wie er aus dem Fenster des furchteinflößenden Sattelschleppers heraus gezielt Jagd auf Menschen machte. Als sie vor Schreck zusammenzuckend erwachte, hockte Jesse direkt vor ihr und musterte Cassidy mit neugierigen Augen.
»Willst du nicht mal nach deinem Bruder sehen?«, fragte er unbekümmert. Sie blinzelte ihn mit einem besorgten Gesichtsausdruck an und suchte nach ihrer Feldflasche. Ihr Blick fiel auf die schwere Eisentür, die den Auflieger von der Fahrerkabine trennte. Vier Wochen lang hatte sie ihr Leben danach ausgerichtet, ihren Bruder wiederzusehen. Nun war er nur ein paar Meter entfernt und sie traute sich nicht, mit ihm zu sprechen.
»Angst vor seiner Freundin?«, bohrte der Junge unvermittelt nach. Cassidy verschluckte sich beinahe und schaute Jesse verdutzt an. »Die schwarze Frau ist mit Sicherheit seine Freundin! Sie sitzt seit Stunden neben ihm im Cockpit und führt wahrscheinlich gerade dasselbe Gespräch mit ihm.«
»Dann bist du also jetzt mein Freund?«, fragte Cassidy zynisch.
»Nein, dafür bist du mir ein bisschen zu alt«, antwortete er trocken wie ein Nachrichtensprecher. Sie blickte den Knaben sprachlos an. Er schien auf jede Frage eine Antwort zu haben, die ihr den Wind aus den Segeln nahm. »Schau mich nicht so an! Geh zu ihm! Du bist doch ein Ranger geworden, um ihn zu finden. Er wurde zum Vulture, um nach dir zu suchen. Nun seid ihr wieder zusammen und traut euch nicht, miteinander zu reden? Man, ich hoffe ich werde nie so alt wie ihr!«
Jesse schaute sie zum ersten Mal direkt an, so als wollte er sie verscheuchen. Er hatte Recht, es führte kein Weg daran vorbei. Cassidy stand auf und stolperte in Richtung Fahrerkabine. Die Tür bestand aus massivem Stahl und sah aus wie die Schotten auf einem Schiff – absolut kugelsicher. Sie zog an dem kalten Eisengriff - ohne Erfolg. Vielleicht war sie von innen versperrt?
»Kräftig ziehen!«, rief Dog ihr plötzlich zu. »Die klemmt manchmal!«
Cassidy zuckte zusammen, als hätte man sie beim Ladendiebstahl erwischt. Gemeinsam mit Angel verfolgte der Hüne amüsiert das Schauspiel. Das Mädchen lief rot an, aber nun gab es kein zurück mehr. Sie stemmte sich mit ihrem linken Fuß gegen die Wand und zog mit aller Kraft an der Eisentür. Einen Moment lang bewegt sich wieder nichts, doch dann sprang sie urplötzlich auf. Erschrocken ließ sie den Griff los und stürzte rückwärts zu Boden. Als sie sich gerade grummelnd aufrichten wollte, erschien Faith in der Tür und half ihr zwinkernd auf die Beine, bevor sie den Weg freimachte und in den hinteren Teil des Aufliegers schlenderte.
Warmer Fahrtwind rauschte durch das Loch, das einst die Frontscheibe gewesen war. Die Stahlplattenverkleidung der Scheiben hing hochgeklappt an einem Scharnier in der Decke und Cassidy konnte den hundert Meter weit vorausfahrenden Humvee bereits von der Schleusentür aus erkennen. Ihr Bruder saß gelangweilt am Steuer des Trucks und ließ einen Arm aus dem Seitenfenster baumeln.
»Stör ich?«, fragte sie vorsichtig.
Caiden zuckte erschrocken zusammen und setzte sich gerade hin.
»Nein! Setz dich doch!«, erwiderte er unsicher und deutete auf den leeren Beifahrersitz. Cassidy schloss die Tür und nahm neben ihrem Bruder Platz. Für einen Moment schaute sie fasziniert aus dem Fenster hinaus. In einem so großen Fahrzeug hatte sie ja noch nie gesessen.
»So, du bist also Ranger geworden, um mich aus der Sklaverei zu befreien«, begann ihr Bruder, um die bedrückende Stille zu beenden. Cassidy drehte den Kopf zu ihm und nickte. »Haben sie dich gut behandelt?«
Das Mädchen spielte geistesabwesend an ihrer goldenen Halskette und überlegte dabei, wie sie auf die Entwicklung ihres älteren Bruders reagieren sollte. Der Traum über seinen Aufstieg zum Mörder und Vergewaltiger steckte ihr noch in den Knochen und nun sah sie ihn leibhaftig vor sich, blutverschmiert und in der schwarzen
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