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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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Irgendetwas drückte auf ihre Lider. Jedes Drehen ihrer Augäpfel war schmerzvoll und wurde von einer Welle Übelkeit begleitet. Wie nach einem Besäufnis, dachte sie. Hat man mich abgefüllt? Aber nein, kein Mensch wird so schnell besoffen, wie ich umgefallen bin. Ich erinnere nichts. Nur die ganz alten Geschichten. Jan und ich im Auto.
    Ich erwache, dachte sie. Und das tut weh. Sie lag auf der Seite. Sie spürte, dass ihr der Schweiß auf der Stirn stand und am Rücken klebte. Mit jedem klaren Gedanken, der ihr nun kam, schoss ein Brennen durch ihre Mundwinkel. Es fühlte sich an, als seien sie eingerissen. Vergeblich versuchte sie, die Hand zu heben. Sie gehorchte nicht, sie war nicht einmal zu spüren. So geht es einem, wenn man im Krankenhausbett erwacht, sagte sie sich. Weil einem der Blinddarm herausgeschnitten wurde, oder das Herz.
    Aber im Krankenhaus liege ich nicht.
    Jetzt erst begriff sie, dass ihre Augen verbunden waren. Sie presste ihre Lider gegen das Tuch, das viel zu fest um ihren Schädel gebunden saß. Würgereiz stieg in ihr auf.
    Der Reihe nach bewegte sie ihre Glieder, eines nach dem anderen, im Uhrzeigersinn. Sie versuchte, dem Lauf ihrer Nervenbahnen zu folgen, bis in die Spitzen ihrer Hände, ihrer Füße. Doch da war nichts, nur ein kaum merkliches Kribbeln. Sie begriff: Die Hände sind mir am Rücken gefesselt, die Beine oberhalb der Knöchel an die Bettpfosten gebunden.
    Eine Erinnerung tauchte auf: Ein Mann, der auf der Veranda vor ihr steht. Ein Schreibbrett in seiner Hand. Er trägt eine Lederjacke.
    Sie fühlte nach ihrer Zunge. Ein riesiges aufgequollenes Ding in ihrem Mund. Trocken und heiß.
    Das Tuch, das man ihr um den Mund gebunden hatte, schnürte ihre Zunge ab, und mehr als ein Stöhnen brachte sie nicht hervor. Warum befreit mich niemand? Wer ist hier mit mir? Sind Jan und die anderen im Haus? Suchen sie nach mir?
    Nein. Sie alle sind in der Hand jenes Mannes, den ich arglos eingelassen habe, weil er mich anlächelte, weil er so höflich sprach. Es gibt Schwierigkeiten mit dem geplanten Anschluss ans kommunale Wassernetz, hat er gesagt, auf eine langsame Art. Die Inselverwaltung habe ihn beauftragt. Die Inselverwaltung? Ja, sie war misstrauisch geworden, doch sie wollte nicht riskieren, dass den Lövgrens ihretwegen Ärger entstünde. Kommen Sie herein, hatte sie gesagt, auf der Türschwelle kehrtgemacht und ist vor dem Mann in den Korridor getreten. Kurz spürte sie seinen Arm, der sich um ihren Hals legte wie ein Brett, dann nichts mehr.
    Ich liege gefesselt und geknebelt auf meinem Bett, aber ich erwache. Mehr oder weniger. Sie versuchte ihr Gewicht zu verlagern. Mit einem Schwung warf sie sich nach vorne. Ihr Gehirn schwappte hinterher und brandete gegen die Schädelknochen. Mehr als ein Rütteln brachte sie nicht zustande. Die Anstrengung drohte sie hinabzustoßen in die Ohnmacht. Als ihre Kraft zurückkehrte, trat sie und schlug, vergeblich. Alle Anstrengung blieb in den Fesseln hängen.
    Sie hörte Stimmen. Türen, die sich öffneten, ein Lachen, das gespielt klang. Sie glaubte, Sassies Stimme zu erkennen. Das Klappern von Geschirr drang bis zu ihr, ein Brüllen aus der Küche, ein Türgriff, der knallend hochschnappt, dann schwere Schritte aus dem Flur. Das Anlassen eines Motors, das Schlagen einer Autotüre, das Anfahren, die Stille und die Furcht, allein zurückzubleiben.
    Plötzlich ein Schritt aus der Ecke ihres Zimmers, ihr gegenüber, dann ein Keuchen, ganz nah, und während ihr das Herz stehen blieb, wirklich stehen blieb, und Angst ihr jählings die Luft zum Atmen nahm, kamen die Schritte noch näher, verharrten kurz und entfernten sich aus dem Zimmer. Sie wollte schreien, toben, aber sie begriff, dass sie genau dies nicht machen durfte, wenn alles wieder gut werden sollte. Dass sie unbedingt still halten musste.
    Sie stürzte in einen Schwindel, dann ins Dunkel.
    ✴
    Es war ihr Bruder, der sie ans Licht riss. Er zog sie von ihrem Bett, befreit von allen Fesseln und Binden und Knebeln. Sie musste gegen die plötzliche Helligkeit anblinzeln, ihr Rachen war wund. Jan schleppte sie zur Sitzbank am Fenster.
    Sie versuchte auf eigenen Beinen zu stehen, knickte aber sofort ein.
    – Das kommt vom langen Liegen, meinte Jan.
    Sie schlug ihre Hand in sein Gesicht. Es lag keine Kraft in ihrem Schlag, der seine Wange traf, aber bitte, bitte nimmt er das jetzt nicht für ein Streicheln. Ihr dummer, kindischer Bruder, der schuld an alldem war, der Zettel und

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