Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
Vom Netzwerk:
ihre Heimstatt, die wie eine riesenhafte Kinderlaterne in der Dunkelheit schwebte. Die Luft war feucht und warm und roch nach Meer. Myrbäck glaubte, eine jammernde Stimme zu hören, beschloss aber, dass es der Wind sei, der durch die Blätter der Birke über ihrem Kopf strich.
    Jan klopfte ihm auf den Arm. Er deutete stumm auf das Dach des Hauses. Eine Rauchfahne stieg aus dem Schornstein in den nachtschwarzen Himmel.
    – Wer macht denn Kaminfeuer?, fragte er. In einer so warmen Nacht?

Christiania, September 1985
    Das ist sie ja, rief Lilja. Vor Schreck stieß ihr Knie gegen die Fensterscheibe. Die Scheibe erzitterte, aber zersprang nicht.
    Zusammengefaltet hockten sie auf dem Fensterbrett in der Küche und folgten mit ihren Blicken der Frau. Sie trug ein rotes Flatterkleid, so wie ihre Mutter es immer getragen hat. Sie kreuzte den Querweg zum Fahrradladen, ging am Garnisonshaus entlang, bis sie zwischen den Holunderbüschen außer Sicht geriet. Sie geht schnell, weil sie zu uns will, sie läuft fast.
    Sie war eine Frau mit dünnen Beinen und einem Pferdeschwanz aus blonden Haaren. Bei jedem Schritt wackelte ihr Pferdeschwanz vor sich hin. Sie trug eine Tasche, die schwer sein musste. Ihre ganze Figur hing ein wenig zur Seite geneigt, und jetzt sah sie, dass die Frau nicht ihre Mutter sein konnte. So schief würde sie niemals gehen, im Leben nicht. Als sie an der riesigen Eiche ankam, begriff das auch Lilja.
    So täuschen wir uns. Jedes Mal.
    Lilja fürchtet sich noch mehr als ich. Dabei hat sie sich so gefreut auf ihren Vater. Jetzt sitzt sie abends immer am Küchenfenster und sieht hinaus, damit sie gewarnt ist, wenn er angetorkelt kommt wie ein Matrose. Die Haustür aufreißt und auf sie einschimpft wegen nichts. Oder weil er darüber sprechen will, dass seine Frau ihm weggelaufen ist. Oder schluchzt, dass sie verrecken soll.
    Deshalb verschwinden wir, sobald Lilja ihn nahen sieht. Wir rennen in unser Zimmer, wir ziehen die Bettdecken über unsere Köpfe, wir pressen die Augenlider fest zusammen. Damit er gar nicht auf die Idee kommt, uns zu wecken und uns von seinen Wirbelstraßen und Katabatischen Winden zu erzählen, lauter so Zeugs, das kein Mensch versteht. Er hat uns beigebracht, was ablandige Winde sind und was Wärmeinseln über der Stadt. Über den Mistral spricht er, den Piteraq in Grönland. Und von seinen Fallwinden, die den Nippfjäll herabrasen, die Bäume an den Ufern des Ljusnan abrasieren und noch an der Küste die Kinder übers Bandyfeld am Mosebacke pusten wie Herbstlaub. Solche Winde kennt ihr hier gar nicht im verwöhnten Süden, sagt er, und das Unglück bringen sie auch noch mit sich. Sein Lieblingswind ist der Williwaw, bestimmt wegen des Namens. Er bläst mit heißer Luft um Kap Horn und schleudert Schiffe gegen die Brandungsfelsen. Lilja hört ihm mit großen Augen zu. Es sind die einzigen Momente, in denen sie sich nicht vor ihm fürchtet.
    Heute wird es besonders schlimm werden, das spürte sie.
    Am Morgen hat er den schweren Aschenbecher aus Glas vom Tisch genommen und ihn nach ihr und Tante Gunilla geworfen. Auf seinem Flug segelte er mitten durch die Lichtstrahlen, die vor dem Mittag durch das Fenster scheinen. Sein Inneres funkelte in Orange, er schoss über ihren Kopf hinweg, knapp an Gunillas Hals vorbei, platzte durch die Fensterscheibe, zersprang mit einem Knallen auf der Steinmauer im Garten in tausend flirrende Teile.
    Liljas kleine Faust stieß ihr in die Seite. Da kommt er, flüsterte sie. Schnell weg.

D as dichte lockige Haar, das der Mann bei ihrer letzten Be gegnung unter einer hellblauen Wollmütze versteckt hatte, glänzte schwarz im Licht der Deckenlampe.
    – Da ist er doch, meinte Myrbäck. Der Typ, der uns neulich im Weg stand. Vorwurfsvoll sah er Sassie an. Hab ich doch gleich gesagt.
    Ihr schien es einerlei, was er sagte. Sie starrte den Fremden an, als wäre er eine Klapperschlange.
    – Guten Abend, sagte der Mann. Er saß in seiner offenen Jacke am Esstisch und hob eine Flasche Bier zum imaginären Prosit. Schön euch zu sehen. Das Korbgeflecht seines Stuhls verfolgte jede seiner Gesten mit einem Knacken.
    – Wer bist du?, fragte Sassie. Wütend, voll aggressiver Neugierde.
    – Die Hausherrin hat mich invitiert, sagte er. Nicht ganz freiwillig. Aber das tut nichts zur Sache. Mein Name ist Juhani. Aber nennt mich doch Jukki. So nennen mich die Leute hier.
    Ein altrosa Mokkatässchen mit Sonnenblumenkernen stand vor ihm auf dem Tisch. Mit Daumen und

Weitere Kostenlose Bücher