Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Zeitungsartikel unter ihrer Spüle versteckte, die er selbst nicht verstand, weil er kein Flugingenieur war, sondern bloß ein dummer Anstreicher und Rostschutzmaler. Beschimpfen wollte sie ihn, doch was aus ihrem Mund kam, war nicht mehr als ein Gestammel, ein Zucken ihrer geschwollenen Zunge. Sie glitt auf den Boden und kroch auf allen vieren der Schlafbank entgegen. Als sie sich an der Lehne hochzog, sah sie das Kaninchen.
Es lag auf der Fußmatte vor ihrem Bett. Angeekelt beugte sie sich über die blasenartig aufgestülpten Eingeweide. Sie glänzten feucht, weißbläulich marmoriert, und rotblau dort, wo man den Schädel vom Rumpf getrennt hatte.
Der Kopf des Kaninchens war zwischen Parfümflakons auf der altmodischen Frisierkommode in der Ecke des Zimmers abgestellt worden, so als wäre er Teil eines von Kinderhand zerpflückten Stofftieres. Aus traurig glänzenden Augen schien das Tier sich selbst im Spiegel anzuschauen.
Christiania, September 1985
Schatten, die Schatten werfen? Gibt’s das? Sie schritt ihrem Schatten an der Sandsteinmauer hinterher, er war länger als zwei Autos auf einmal. Es begann zu dämmern, und man konnte nicht einmal mehr rechtzeitig sehen, was die Figuren im Schilde führten, die einem begegneten. Auf der Heibergsgade wechselte sie die Straßenseite, weil ihr ein großer schwarzer Hund und zwei Eskimos entgegenkamen. Die beiden Männer sind schon betrunken, dachte sie. Das kann man doch vom Mond aus erkennen.
Sie ähneln den Kerlen aus dem Western, den sie im Gemeinschaftshaus im Fernsehen gesehen hatte. Sie spielten die Schurken mit den Cowboyhüten, die eine Familie überfallen und ihr Haus niederbrennen. Am Ende bekam jeder von ihnen eine Kugel vom Sheriff in den Kopf, und die Leute im Gemeinschaftshaus buhten.
Ihrem Vater würde es eines Tages so ähnlich ergehen. Am Morgen hatte er eine graue Plastikplane vor das Fenster gehängt, das er mit dem Aschenbecher eingeschmissen hatte. Dann hatte er stumm dabei zugesehen, wie Gunilla ihren Koffer packte.
Sie und Lilja haben Gunilla dann zum Bus an der Prinsessegade begleitet. Nimm uns doch mit, hatte Lilja gebettelt, sobald Gunilla den Bus bestieg. Das geht nicht, hatte sie geantwortet. Ich darf es nicht. Zum Schluss strich sie Lilja über das Haar und sagte: Eurem Vater ist nicht mehr zu helfen.
Damit meinte sie wohl, dass er seine Arbeit in der Düngerfabrik verloren hatte. Am Ende war er einfach nicht mehr hingegangen. Weil er morgens nicht hochkommt von seiner Pritsche, die er in der Küche aufgestellt hat. Er traute sich nicht, im Bett ihrer Mutter zu schlafen. Ich schlafe nicht im Bett einer Hure, hatte er gesagt. Da schläft der Teufel.
Jetzt sitzt Gunilla schon längst im Zug nach Norden. Sie rechnete nach. An Malmö ist sie vorbei, am Vätternsee mit seinem zotteligen Riesen aus Holz, im Hauptbahnhof von Stockholm ist sie umgestiegen, ist quer durch Uppsala, die Küste Södra Norrlands hoch, und mitten in der Nacht wird ihr Zug in Sundsvall einrollen. Im Morgengrauen wird sie den Bus nach Ljusne besteigen. Ich wäre lieber mit ihr gefahren, als auf Mettes Geburtstagsfeier zu gehen, dachte sie. Alle waren im Hinterhof und hatten Lüge oder Wahrheit gespielt. Sie hat nein geantwortet, als Mette sie fragte, ob sie im Leben schon ein Tier gequält habe. Niemand hat ihre Lüge durchschaut. Als das Fest zu Ende war, fragte die Mutter von Mette, ob ich wirklich alleine nach Hause gehen möchte? Ja, habe ich gesagt. Wovor soll ich denn Angst haben?
Sie näherte sich dem Königlichen Theater, als Regentropfen dicke schwarze Flecken auf den Asphalt klatschten. Vor ihr standen Männer in Anzügen und Frauen in weiten Kleidern mit Sektgläsern in den Händen. Einige Frauen schrien, weil ihre Festtagskleider nass wurden. Ihr Schreien klang gespielt, fand sie.
Sie ging so nah heran, dass sie sehen konnte, wie einer Frau das Brillenglas beschlug. Regentropfen färbten ihr grünes Kleid erst braun und dann durchsichtig. Winzige Wasserkugeln lagen auf ihrer Frisur.
Glocken schlugen, und die Leute drängten ins Innere des Theaters. Plötzlich stand sie alleine vor dem riesigen Haus und den beiden Männern, die auf Stühlen vor der erleuchteten Fassade saßen. Sie waren Denkmäler.
Rund um Kongens Nytorv klapperte sie die Rückgabefächer der Zigarettenautomaten nach vergessenen Münzen ab. Sie fand keine einzige Öre und lief schnell weiter. An der höchsten Stelle der Knippelsbrücke blieb sie atemlos stehen, auch wenn dort kühle
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