Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Stirn, immer wieder, bis es ihm wirklich wehtat.
W enn mich mal jemand um Rat fragte.
Ich würde sagen: Nehmt euch den Bankhubschrauber vor. Seit letztem Sommer ist er im Einsatz, zweimal die Woche schafft er Bargeld vom Festland auf die Insel. Auf diese Idee ist niemand gekommen, denn die Leute sagen sich: Wer ist so blöd zu glauben, er könne mit Boot und Beuteschatz von einer Insel entfliehen? Wer bildet sich ein, den Helikopterstaffeln der Küstenwache entwischen zu können? Ich aber frage mich: Was geschieht, wenn man sich das Geld holt und bleibt? Einfach bleibt, sich einbuddelt, statt Reißaus zu nehmen?
Aber kein Mensch fragt ja nach meiner Meinung, keinen Einzigen in diesem Unterholz voller Verzweifelter drängt es ans Licht der Erkenntnis, dachte Heidi. Meinen Bruder schon gar nicht. Sie hatte ihm den Briefumschlag mit seinen Geheimpapieren unter die Nase gehalten. Es war ihm überhaupt nicht peinlich. Nicht einmal errötet war er. Er hatte den Umschlag genommen, versucht, ihn in seinen Händen zu zerreißen, und ihn, als das nicht gelang, einfach in den Müll geworfen und gesagt:
– Brauch ich nicht mehr.
– Du hast dir viel Mühe gemacht, ihn unter meiner Küchenspüle zu verstecken, hatte sie schnippisch geantwortet.
Und er, beim Weggehen schon:
– Ja, aber das war einmal.
Gestern dann. Den Tag über hatte er mit den anderen beiden Deppen in der Kiesgrube gesteckt, drüben bei Sorunda, und auf leere Bierdosen geschossen. Mit der einen mickrigen Pistole und dem Luftgewehr, die ihnen diese Gangster gnädigerweise überlassen hatten. Aber heute Nacht kann Jan mir mal zeigen, wozu er imstande ist. Außer Rauchbomben basteln und auf leere Bierdosen schießen.
Die Geschwister Holzapfel waren auf dem Weg zur Arbeit. Sie passierten menschenleere, lichterhellte Industriegebiete, triste Brachwiesen, zukünftiges Bauland für Konferenzhotels, und nicht einmal die imposanten Spiegelfassaden der Hochhäuser konnte man sich ansehen, ohne dass einem schauerlich einsam in dieser Nachtlandschaft wurde, fand Heidi. Es tröstete auch nicht, dass der Gestank von Benzin ins Wageninnere kroch.
Trotzdem. Seite an Seite mit ihrem Bruder war das Elend zu ertragen. Ab und an überholten sie einen der Schwerlaster, und für Sekunden konnte sie sein Gesicht im Schlaglicht der Scheinwerfer erkennen.
Im Profil sieht er immer noch prächtig aus, dachte sie. Für sein Alter. Gut, ihm sind die Backen ein wenig rund geworden, die Hüften ebenso, seine Beine kräftiger. Ja, der ganze Jan ist weicher geworden. Bereitwillig war er darauf eingegangen, sie mitzuschleppen auf diese nächtliche Tour. Aber schließlich: Hatte sie ihm geholfen oder nicht? Hatte sie ihm die Fliegenfänger besorgt oder nicht? Ja, sie hat die widerwärtigen Klebebänder bei ihrem Gemüsehändler auf Skärholmen entdeckt, hoch unter der Decke seines Standes hingen sie, und sie hat den redseligen Mann aus Damaskus beim Kauf von Avocados und Limetten überredet, ihr ein oder zwei seiner altmodischen Insektenkiller zu überlassen. Am Ende hatte er ihr ein halbes Dutzend der Pappdöschen in die Hand gedrückt. Für umsonst.
Sie schraubte die Thermoskanne auf. Geruch frisch aufgebrühten Kaffees füllte den Wagen.
– Wie kannst du ständig Kaffee trinken?, fragte er.
– Das lernt man hier so. Ohne ihren Kaffee finden die Leute keinen Schlaf.
Ihr fiel ein, dass sie morgen früh zu ihrem mobilen Hepatitisdienst für die neunten Klassen eingeteilt war. Auch wieder so ein Arbeitstag, dem ich völlig lustlos entgegensehe.
– Kannst du endlich in den dritten Gang schalten?, fragte sie in das Blubbern des Motors hinein, als sie die E 4 an der Ausfahrt Arlanda verließen. Immer schaltet er zu spät in den tieferen Gang zurück, es macht mich rasend. Auch bei Tempo fünfzig sind wir noch im vierten unterwegs. So spart man Benzin, behauptet er.
Auf dem Dach des Parkhauses stank es nach altem Schmieröl und regennassem Beton. Jan stieg aus und montierte die Nummernschilder dreier Autos ab.
Sie fragte sich, ob sie den Schuldienst schwänzen sollte. Eine Kolik vortäuschen, eine Sepsis? Die üblichen Wehwehchen nahm ihr doch niemand ab.
– Geil, meinte Jan, als sie ohne Scheinwerferlicht die Abfahrt des Parkhauses hinunterrollten. Ihr wurde schlecht von all den steilen Kurven.
Es war drei Uhr nachts, als sie auf den Parkhof einer Autovermietung in Upplands-Väsby einfuhren. Während sie die Klappe des Briefkastens am Hauptgebäude anhob, drückte er eines
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