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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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übernächtigten Gesichtern an. Vor dem Regen waren sie hier geschützt, doch ihr Unterschlupf öffnete sich zur See, ein kühler Wind fuhr ihr an den Ohren entlang. Er vertrieb jedoch keine der Mücken, die ihr Blut gewittert hatten und von Minute zu Minute zahlreicher herbeisurrten.
    Es kam ihr vor, als ziehe auf einmal, mit dem Ende der Nacht, die Kälte an. Sie zog ihre Jacke enger und vergrub die Hände in den Achselhöhlen. Sie sah Holzapfel dabei zu, wie er sein T-Shirt zum Trocknen über einen rostigen Draht in der Wand hängte, sich dann nur hinhockte und hier und da mit der Hand über sein blutiges Knie fuhr. Dann breitete er eine löchrige Persenning vor sich aus. Er hatte sie in der Bilge des Bootes gefunden und mit sich heraufgeschleppt. Ungeschickt legte er sie sich um seine nackten Schultern.
    – Unsere Wärme geht über den Kopf verloren, sagte sie, stand auf und legte ihm die Persenning über den Kopf.
    – Was?
    – Schon gut.
    Wortlos verbrachte Minuten vergingen. Sie starrte regungslos durch den schmalen Eingang des Bunkers und sah dabei zu, wie eine tief hängende Wolke auf dem Bergkamm über der Bucht strandete. Die Bäume leuchteten heller und heller gegen den Nachthimmel. Gleich würden sie wieder verblassen, das wäre dann der beginnende Tag. Holzapfels Schweißgerät lag in einer langsam wachsenden Pfütze. Hin und wieder gab es ein glucksendes Geräusch von sich.
    – Was tun wir hier? Sassie fragte in die Stille hinein. Mir ist kalt. Es regnet. Sollten wir nicht sehen, dass wir zur Straße kommen? Sie klopfte auf die dicke Uhr, die an ihrem schmalen Handgelenk auf und ab rutschte.
    – Also. Was machen wir?
    – Warten. Was sonst. Wir warten. In dem grauen Frühlicht sahen Myrbäcks Lider entzündet aus, seine sonst so lebhaft durchbluteten Lippen blass und spröde. Immer wieder fuchtelte er in der Luft herum, um die Mücken zu verscheuchen.
    – Wir warten auf was?
    – Auf das Ende des Regens. Wir sind schon nass genug.
    Sie war enttäuscht. Sie wollte nicht weiter, sie wollte auch nicht bleiben. In Knuts Arme wollte sie sich legen und einschlafen. Er hielt seine Augen geschlossen. Es sah aus, als meditierte er.
    Es war Holzapfels in die Stille platzende Stimme, die ihn weckte.
    – Wisst ihr, wo die stärksten Winde wehen?
    – Nein, antwortete Myrbäck schläfrig. Aber sicher wirst du es uns gleich erzählen.
    – Nein. Was weiß ich. Ich will bloß wissen, an welchem Ort es schlimmer zugeht als an diesem hier. Ich will glauben, nicht das ärmste Schwein auf der Welt zu sein.
    – Ich sage es dir, sagte sie. Kein Wind bläst böser als die Katabatischen Winde der Antarktis. Sie rasen über die Schelfeisfelder des Rossmeeres. Wer hineingerät, stirbt in wenigen Minuten.
    – Woher weißt du das?
    – Von meinem Vater.
    – So einen Vater hätte ich auch gern gehabt.
    – Ha. Du hättest ihn geschenkt bekommen.
    Holzapfel musste den Zorn in ihrer Stimme gehört haben. Er kam mit einer neuen Frage.
    – Euer schlimmstes Erlebnis. Was ist das Schlimmste, was euch je passiert ist?
    – Du immer mit deinen Fragen, sagte Myrbäck leidend, insgeheim aber schien er froh darüber, über was auch immer sprechen zu können. Die Antwort kam schnell:
    – Der letzte Tag, die letzte Nacht. Schlimmeres ist mir nie passiert.
    Holzapfel nickte. Von seiner Suche nach Superlativen ließ er jedoch nicht ab.
    – Und das Übelste, was ihr je angestellt habt?
    – Das Übelste? Myrbäck antwortete sofort. Abgesehen davon, dass ich hunderten von Leute ihre Autos abgenommen habe? Ja, das Schlimmste habe ich gestern gemacht. Da stand ich unter einer Autobahnbrücke, vor einem abgerissenen Bein. Und bin feige abgehauen.
    – Schlimmer geht’s nicht. Holzapfel stimmte ihm zu. Aber es ist nicht unsere Schuld, oder?
    – Ich weiß nicht, meinte Myrbäck. Wir hätten einfach nicht da sein sollen.
    – Und du? Welche Dummheiten hast du so begangen? Holzapfel sah sie forschend an. Die Plane über seinen Schultern begleitete seine Bewegungen mit einem Knistern wie Zellophan.
    Jan ist nicht mein Beichtvater, seine Fragen sind kein Verhör, suchte sie sich zu beruhigen. Küsse oder Wahrheit, als Kind hatte sie es oft gespielt und sich fast immer küssen lassen, wenn es sein musste auch mit der Zunge. Weil es manchmal zwar eklig war, aber niemals wehtat. Und wer möchte über sich selbst sprechen und dann in ein Gesicht blicken müssen, das einen voller Unverständnis ansieht? Jans Fragen aber sind bloß ein kindisches

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