Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Wo sind wir?, fragte Sassie.
– Beim alten Anleger. Er steuerte einen hellen Streifen zwischen den Klippen an, eine Betonrampe zwischen Felsen.
– Im Zweiten Weltkrieg hat die Marine ihn in den Granit gesprengt, aus Angst vor den Russen. Ein halbes Jahrhundert lang haben Soldaten auf diesen Felsen auf einen Feind gewartet, der nie kam. Kein Mensch kommt mehr hierher.
Seine Stimme klang ruhig, dabei sollte er vor Wut kochen, bersten, brennen von Hass. Aber nein. Ärgeres als ein angesäuerter Widerwille schwappte nicht in seinem Inneren auf. Monatelang war er wütend auf Holzapfel gewesen, in einer nur milden Form. Nun schien diese Wut restlos aufgebraucht. Dass er nicht ganz und gar fertig war mit Jan Holzapfel, dass er ihm seinen Verrat längst verziehen hatte, dafür konnte es nur einen einzigen Grund geben. So wie sein Freund hatte auch er, Knut Giovanni Myrbäck, keinen Funken Ehre im Leib. Sie beide hörten allein und immerzu auf ihre niedersten Instinkte.
Während er den Kurs des Bootes sanft korrigierte, hatte Holzapfel sein Schweißgerät erneut geschultert und sich aufgerichtet. Die Schwingungen des Schiffsbodens fing er mit weichen Knien auf, das aber reichte nicht, die Balance zu halten, weil Myrbäck den Motor urplötzlich drosselte. Mit einem Rucken verharrte das Boot in einem Wellental, bäumte sich in seinem eigenen Schwallwasser auf und brachte Holzapfel ins Wanken. Er schlug mit den Armen aus, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, griff in all seiner Kurzsichtigkeit an der Reling vorbei und holte dabei doch nur Schwung für einen lautlosen Sturz über Bord.
Jan war noch nicht ganz unter der Wasseroberfläche verschwunden, da schob Myrbäck den Gashebel wieder nach vorn und steuerte das Ufer an.
Christiania, Dezember 1985
Wir stecken im Haus beim Ofen. Wie faulpelzige Hunde liegen wir auf einer Wolldecke, den ganzen Tag lang. Lilja spielt mit ihrer Stoffkatze, ich male. Schlösser und Burgen, am liebsten male ich die Zinnen, das gleichmäßige Auf und Ab und zur Seite, das der Bleistift macht. So langsam schläft mir der Arm ein, mit dem ich die Malblätter über dem Kopf halte.
Plötzlich steht er in der Tür. Wir gehen aufs Eis, ruft er. Auf Eis. Auf Eis. Er scheucht uns. Die Eishockeyschuhe hängen um seinen Hals, die Mütze sitzt ihm auf dem Kopf bis über die Ohren. Seit es kalt ist, läuft er mit dieser ollen Mütze herum. Vom dauernden Mützentragen sind seine Haare platt wie bei einer altmodischen Spielpuppe.
Draußen hing ein metallischer Geruch in der Luft. Das ist der Schnee, der bald fallen wird, dachte sie. Über den Dächern der Kasernen hingen dünne Rauchschleier.
Als er Lilja auf den Schlitten hob, öffnete sich die Tür des Nachbarhauses. Catrine trat in den Garten. Sie trug ihr Baby in einem Indianertuch vor der Brust. Sofort fing er an, auf sie einzureden. Das Erste, was ich mache, wenn ich aufstehe? Zweige schneiden. Wenn ich aufwache, muss ich Zweige schneiden, und es dauert oft ganz schön lange, bis das Holz gesammelt und ofengerecht geschnitten ist.
Ja, es ist mühsam, sagte Catrine. Man merkte ihr an, dass sie bloß wegwollte von ihm.
Er redete gleich weiter. Heute habe ich eine Stunde für unser Holz gebraucht. Es wird wieder nur für zwei Tage reichen, weil es so kalt ist. Er lügt doch nur, dachte sie. Die Wahrheit ist: Er klaut das Holz, wo er kann. Oder Lilja und ich müssen es für ihn stehlen.
Auf geht, rief er. Auf geht. Er ist so schrecklich aufgeregt, weil er sich freut. Dann redet er schnell wie ein Zug und verschluckt das Ende der Wörter.
Es dämmerte, als sie den Weg entlang den Gemüsegärten einschlugen. Knirschend zogen die Metallschienen des Schlittens über die dünne Schneedecke. Wenig Schnee war in den letzten Tagen gefallen. Nicht einmal in den Nächten war es wirklich kalt. Die Ohren mussten einem wehtun und die Pfützen klirrend zerspringen, wenn man auf sie sprang, dann erst durfte man sich aufs Eis hinauswagen. Es trägt nicht. Höchstens in den Buchten. Aber es war gefährlich, ihm das zu erklären. Ihm den Spaß zu verderben. Gleich kann er auf Schlittschuhen über das Eis sausen, glaubt er.
Sie ließen den Kaufladen hinter sich und standen plötzlich im Nebel. Keine zehn Meter kann man sehen, brummte er. Kacke. Kacke. Lilja klammerte sich auf dem Schlitten fest. Ihr Kopf war in einen Schal gewickelt, eine Kugel, aus deren Mitte Atemwölkchen emporstiegen. Manchmal roch es nach Rauch. Dann gingen sie in der Nähe eines Hauses, in
Weitere Kostenlose Bücher