Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
weiterrollen, parkte halb auf einem Zebrastreifen und sprang auf die Straße. Der plötzliche Positionswechsel brachte seine Blase fast zum Überschwappen.
Holzapfel marschierte in Richtung Osten. Am Mosebacke Torg blieb er stehen und zog ein Telefon aus der Brusttasche seines Overalls. Das war nun doch überraschend, dachte Myr bäck. War es nicht Jan, der davon predigte, stets auf der Hut zu sein, jederzeit? Sogar er, Myrbäck, hatte sich angewöhnt, seine E-Mails vom Internetserver der Bücherei in Nynäshamn zu versenden. Er besaß zwei Mobiltelefone, die er mit verschiedenen SIM-Karten bestückte, um sich von seiner Frau beschimpfen zu lassen, bevor er mit Ed sprechen durfte, und immer plagte ihn dabei das schlechte Gewissen des abwesenden Vaters. Schlimmer noch aber war die Sache mit seiner aufgeschobenen Notdurft.
Ohne sich umzublicken, strebte Holzapfel in Richtung Medborgarplatsen. Dort angelangt, ließ er sich vor der Stadtbibliothek ein Senfwürstchen warm machen. Mit den Krumen des Brötchens fütterte er einen Schwarm Tauben zu seinen Füßen. Vor ihm zog eine Schulklasse quer über den Platz. Jetzt oder nie, dachte sich Myrbäck. Er stand kurz davor sich einzunässen. Er riss die Tür zum Söder-Kino auf und erstürmte die Herrentoilette.
Als er auf den Platz zurückkehrte, fiel leichter Regen.
Holzapfel stand neben einer Gruppe Jugendlicher und blickte genervt gen Himmel. Eine Frau im hellbraunen Sommeranzug blieb vor ihm stehen. Der Schirm, den sie trug, bedeckte ihr Gesicht. Holzapfel sprach mit ihr. Dann hörte er aufmerksam zu, schüttelte den Kopf und machte jene hilflose Miene, in die Myrbäck in den letzten Wochen selbst so oft hatte starren müssen. Auch die Frau schien enttäuscht. Sie drehte sich auf der Stelle und schlug seine Richtung ein.
Myrbäck tat, als schnürte er seine Schuhe. Als die Frau ihn passierte, sah er, dass sie eine alte Bekannte war. Sie war ihm von einem Hamburger Kino auf ein Straßenfest in Nynäs hamn gefolgt, hatte einen Polizisten vor ihrer Wohnungstüre verprügelt und jetzt war sie in Stockholm angelangt. Reißaus vor ihr nehmen zu wollen, war offenbar sinnlos.
Keine halbe Stunde später ließ er Holzapfel an der Abfahrt nach Fors davonziehen.
Als er kurz darauf den Treppenflur des Hauses im Heimdalsväg betrat, überkam ihn ein nostalgisches Gefühl, das ihn aber verließ, sobald er den Fahrstuhl bestieg. Es stank nach Pisse, und die Wände waren getüncht worden. Die frische hellgrüne Farbe hatte ein Kunstwerk zerstört, kein einziger Pimmel war noch unter dem neuen Anstrich zu erkennen. Auch seine beiden Beiträge waren verschwunden.
Auf dem Dachboden hatte man die aufgebrochenen Holzverschläge repariert. Die Bleikiste verstaubte im Betriebsraum des Fahrstuhls. Als er sie zwischen Elektromotor und Kettenaufhängung hervorhob, kam sie ihm schwerer vor. Sie beutelte seine Stofftasche auf bedenkliche Weise.
Neben seinem Kopf setzte sich ächzend das Liftkabel in Bewegung. Beim Aufspringen stieß er mit dem linken Ohr an einen Holzbalken. Er stürmte vom Dachboden und sprang hinab, bis er den vierten Stock erreichte. Im Dunkel des Flurs lauschte er den schweren Tritten auf der Eisentreppe über sich, bis er hörte, wie jemand die Tür zum Dachboden aufschloss. Bloß weg, dachte er.
Auf dem Besucherparkplatz direkt vor dem Haus stand ein nachtblauer Ford Fiesta. Jener Wagen, dem er so geschickt durch die Straßen Södermalms gefolgt war.
Der Mann, der in diesem Moment über den Dachboden strich, konnte niemand anderes sein als Jan Holzapfel.
Ö smo, sagte Myrbäck. In Ösmo will ich nicht leben.
In Feldherrenmanier stand er auf dem Baugerüst. Sein gestreckter Arm deutete auf eine Kirchturmspitze, die sich über den Baumwipfeln am Ausgang des Tals erhob.
– Ösmo, wiederholte er. Eine Kirche. Ein Supermarkt. Sonst kaum mehr als geduckte Häuschen. Ein Fußballfeld, das bei Regen überschwemmt.
– Reg dich ab, sagte Sassie. Von weitem sieht es doch ganz hübsch dort aus. So in der untergehenden Sonne.
– Ja, und eine Schwimmhalle haben sie auch. Einmal die Woche kommen die Bauern der Umgebung und leisten sich eine Grundwäsche.
Sassie klopfte ihre Hände warm. Zu ihren Füßen lag ein Wirrwarr aus Straßen, Zufahrten, Behelfswegen, frisch geteerten Fahrbahnen. Der Ausbau der Autobahn war fortgeschritten, die Sprengungen in vollem Gange. Zweimal täglich dröhnte ihr Donnerhall über Land und Leute hinweg. Neulich war ein Granitblock von
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