Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Göteborg gezogen war?«
Gösta schien zu zögern. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, wir dachten, es wäre leichter so. An dem Tag, als wir uns von ihr verabschiedeten …« Seine Stimme überschlug sich, und er brachte den Satz nicht zu Ende, aber Erica verstand ihn auch so.
»Was ist es für ein Gefühl, sie jetzt wiederzusehen?«
»Etwas merkwürdig ist es schon. Sie ist eine erwachsene Frau, die ich nicht kenne. Trotzdem sehe ich in gewisser Weise das kleine Mädchen in ihr, das am Himbeerstrauch stand und lächelte, sobald man in ihre Richtung sah.«
»Nun lächelt sie nicht mehr so oft.«
»Das ist wahr.« Er runzelte die Stirn. »Weißt du, was mit ihrem Sohn passiert ist?«
»Nein, ich wollte nicht danach fragen, aber Patrik und Paula sind auf dem Weg nach Göteborg, um mit Ebbas Adoptiveltern zu sprechen. Da werden sie sicherlich mehr erfahren.«
»Ich mag ihren Mann nicht.« Gösta nahm sich eine Zimtschnecke.
»Mårten? Ich glaube, er ist ganz in Ordnung. Die Beziehung der beiden scheint allerdings etwas problematisch zu sein. Sie müssen schließlich mit dem Verlust eines Kindes fertig werden, und ich sehe bei meiner Schwester, wie die Beziehung davon beeinflusst werden kann. Trauer führt die Menschen nicht unbedingt zusammen.«
»Da hast du recht«, nickte Gösta. Erica begriff, dass er genau wusste, wovon sie sprach. Er und Maj-Britt hatten ihr erstes und einziges Kind einige Tage nach der Geburt verloren. Und dann Ebba.
»Guck mal, Onkel Gösta! Hier gibt es ganz viele Himbeeren!«, rief Maja aus dem Gebüsch.
»Iss du nur«, antwortete er. Nun strahlten seine Augen wieder.
»Vielleicht könntest du bei Gelegenheit mal als Babysitter einspringen?«, fragte Erica halb im Scherz und halb im Ernst.
»Drei sind wahrscheinlich zu viel für mich, aber um das Mädchen kann ich mich auf jeden Fall kümmern, falls ihr mal Unterstützung braucht.«
»Das merke ich mir.« Erica beschloss, Gösta bald Gelegenheit zu verschaffen, auf Maja aufzupassen. Ihre Tochter war zwar keineswegs schüchtern, aber Patriks griesgrämiger Kollege hatte einen besonderen Draht zu ihr, und es war deutlich zu sehen, dass Maja seiner verwundeten Seele guttat.
»Was hältst du von dem gestrigen Vorfall?«, fragte sie.
Gösta schüttelte den Kopf. »Ich werde daraus nicht schlau. 1974 verschwindet die Familie, wahrscheinlich sind die Leute ermordet worden. Dann passiert all die Jahre nichts, bis Ebba auf die Insel zurückkehrt, und plötzlich ist die Hölle los. Warum?«
»Es kann doch nicht daran liegen, dass sie damals etwas beobachtet hat. Ebba war viel zu klein, um sich an irgendetwas erinnern zu können.«
»Ich glaube eher, dass jemand Ebba und Mårten davon abhalten wollte, das Blut zu finden, aber das passt nicht zu den gestrigen Schüssen. Da war das Kind doch bereits in den Brunnen gefallen.«
»Die Karte, von der Mårten gesprochen hat, deutet darauf hin, dass ihr jemand etwas antun wollte. Und da diese Karten seit 1974 kommen, könnte man daraus folgern, dass alles, was Ebba in der vergangenen Woche zugestoßen ist, mit dem Verschwinden zusammenhängt. Auch wenn der Inhalt der Karten erst jetzt bedrohlich wirkt.«
»Tja, ich …«
»Maja! Du sollst Noel nicht schubsen!« Erica sprang auf und rannte zu den Kindern, die sich vor dem Himbeerstrauch zankten.
»Aber Noel hat mir eine Himbeere weggenommen. Er hat sie … einfach aufgegessen«, heulte Maja und versetzte Noel einen Tritt.
Erica fasste ihre Tochter am Arm und sah sie streng an. »Hör jetzt auf! Du darfst deinen kleinen Bruder nicht treten. Außerdem sind noch massenhaft Himbeeren da.« Sie zeigte auf den Strauch, der sich unter den reifen roten Beeren bog.
»Aber ich wollte die haben!« Maja war deutlich anzusehen, wie ungerecht sie sich behandelt fühlte. Als Erica sie losließ, um Noel auf den Arm zu nehmen und zu trösten, lief Maja weg.
»Onkel Gösta! Noel hat mir meine Himbeere weggenommen«, schluchzte sie.
Er musterte die verschmierte kleine Person und setzte sie sich lächelnd auf den Schoß, wo sie sich, klein und jämmerlich, zusammenkauerte.
»So, meine Süße.« Gösta strich ihr über den Kopf, als hätte er nie etwas anderes getan, als verzweifelte Dreijährige zu trösten. »Weißt du, diese Himbeere, die du unbedingt haben wolltest, war gar nicht die beste.«
»Nein?« Maja hörte abrupt auf zu weinen und sah Gösta an.
»Ich weiß genau, wo man die besten Himbeeren findet, aber es muss unser Geheimnis bleiben.
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