Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
sich nachdenklich zurück. Er wusste, dass die Jungen, die damals über Ostern im Internat geblieben waren, die Leute in der Gegend immer fasziniert hatten. Im Laufe der Jahre waren die wildesten Spekulationen darüber angestellt worden, inwieweit sie etwas mit dem Verschwinden der Familie zu tun hatten oder auch nicht. Wenn er so viel Material wie möglich über die fünf Jungen ausgrub, würde er hoffentlich einen Artikel zustande bringen, den ihm keine andere Zeitung abspenstig machen konnte.
Er richtete sich auf und begann mit der Internetrecherche. Einiges fand man in öffentlich zugänglichen Datenbanken über die Männer heraus, die fünf Jungen von damals. Es bot sich immer an, damit anzufangen. Außerdem hatte er seine Notizen von dem Interview mit John Holm. Die restlichen vier musste er möglichst im Laufe des Tages erreichen. Das bedeutete viel Arbeit in kurzer Zeit, aber wenn es ihm gelang, konnte der Artikel richtig gut werden.
Plötzlich fiel ihm noch etwas ein, das er hastig notierte. Er musste mit Gösta Flygare reden, der die Sache damals miterlebt hatte. Falls er Glück hatte, würde Gösta ihm etwas über seine Eindrücke von den Vernehmungen der Jungen erzählen. Dadurch würde der Artikel an Tiefe gewinnen.
Langsam packte Percy seine Reisetasche. Er würde die große Feier zum sechzigsten Geburtstag nicht besuchen. Mit wenigen Telefonaten hatte er in Erfahrung gebracht, dass Pyttan ihn nicht nur verlassen hatte, sondern beim Jubilar eingezogen war.
Morgen früh würde sich Percy in den Jaguar setzen und nach Fjällbacka fahren. Er war nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber Leons Anruf hatte ihm noch einmal verdeutlicht, dass sein Leben kurz vor dem Zusammenbruch stand. Was hatte er eigentlich zu verlieren?
Wie immer, wenn Leon sprach, gehorchte man. Er war schon damals der Anführer gewesen. Es war seltsam und ein wenig beängstigend, dass er bereits mit sechzehn über die gleiche Autorität verfügte wie heute. Vielleicht wäre Percys Leben anders verlaufen, wenn er Leons Anordnungen nicht befolgt hätte, aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Jahrelang hatte er die Ereignisse auf Valö erfolgreich verdrängt und war nie dorthin zurückgekehrt. Als sie an jenem Ostersonnabend ins Boot stiegen, hatte er sich nicht einmal umgesehen.
Nun war er gezwungen, sich wieder zu erinnern. Er wusste, dass er besser in Stockholm bleiben, dem Treiben auf dem Karlaväg zusehen und sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken sollte, während er auf die Gläubiger wartete. Doch Leons Stimme am Telefon hatte ihn genauso willenlos gemacht wie damals.
Die Klingel ließ ihn zusammenzucken. Er erwartete keinen Besuch, und Pyttan hatte bereits alle Wertgegenstände mitgenommen. Er gab sich nicht der Illusion hin, sie könnte reuevoll zu ihm zurückkommen. Sie war nicht dumm. Ihr war klar, dass er alles verlieren würde. Daher hatte sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Sie war in einer Welt aufgewachsen, in der man jemanden heiratete, der einem etwas zu bieten hatte. Eine Art aristokratischer Tauschhandel.
Er öffnete die Tür. Rechtsanwalt Buhrman stand davor.
»Sind wir verabredet?« Percy erinnerte sich nicht.
»Nein, das sind wird nicht.« Der Anwalt machte einen Schritt nach vorn, so dass Percy zur Seite treten und ihn hereinlassen musste. »Ich hatte einiges hier in der Stadt zu erledigen und wollte eigentlich schon am Nachmittag wieder zurückfahren, aber die Sache ist dringend.«
Buhrman vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Percy bekam weiche Knie. Das hörte sich nicht gut an.
»Kommen Sie herein.« Er bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen.
Im Kopf hörte er die Stimme seines Vaters: Zeig niemals Schwäche, was immer auch geschieht. Plötzlich drängten sich ihm Erinnerungen an die Momente auf, in denen er es nicht geschafft hatte, Vaters Rat zu befolgen, sondern weinend, bettelnd und flehend zusammengebrochen war. Er schluckte schwer und schloss die Augen. Dies war nicht der passende Zeitpunkt, um die Vergangenheit an sich heranzulassen. Morgen würde sie ihm ohnehin begegnen. Nun musste er abwarten, was Buhrman von ihm wollte.
»Darf ich Ihnen einen kleinen Whisky anbieten?« Er ging zum Teewagen und schenkte sich selbst einen ein.
Der Anwalt ließ sich ächzend auf dem Sofa nieder. »Nein, danke.«
»Einen Kaffee?«
»Nein, danke. Setzen Sie sich.« Buhrman klopfte mit seinem Stock auf den Fußboden, und Percy setzte sich. Schweigend hörte er dem Anwalt zu
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