Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
forderten sie immer offener heraus. Dass Rune allem Anschein nach nichts davon bemerkte, machte die beiden noch waghalsiger.
Nachts hörte Inez aus dem Schlafsaal unterdrücktes Weinen. Nicht laut, sondern ganz leise.
Sie hatte Angst. Es hatte Monate gedauert, bis sie es benennen konnte. Hier stimmte etwas nicht. Sie schlichen um das Thema herum, und sie wusste, dass Rune naserümpfend abwinken würde, wenn sie es anspräche. Doch auch ihm war bewusst, dass etwas nicht in Ordnung war. Das sah sie ihm an.
Die Müdigkeit trug das Ihre dazu bei. Die Arbeit in der Schule und die Verantwortung für Ebba setzten ihr genauso zu wie das dunkle Geheimnis, das sie nicht ansprechen durfte.
»Mamamamam«, quietschte Ebba in ihrem Laufstall. Sie hatte sich an die Längsseite gehängt und ließ Inez nicht aus den Augen.
Inez ignorierte sie. Sie konnte sich einfach nicht aufraffen. Das Mädchen verlangte zu viel von ihr, und außerdem war sie Runes Kind. Nase und Mund sahen genauso aus wie seine, was es ihr noch schwerer machte, das Kind an sich heranzulassen. Inez kümmerte sich um sie, wickelte und fütterte sie und nahm sie auf den Arm, wenn sie sich weh getan hatte, aber mehr konnte sie ihr nicht geben. Die Angst nahm zu viel Raum ein.
Zum Glück war da noch etwas. Es gab ihr Kraft und sorgte dafür, dass sie es hier noch eine Weile aushielt und sich nicht einfach in ein Boot setzte und alles hinter sich ließ. In den dunklen Stunden, als sie mit dem Gedanken spielte, hatte sie nicht gewagt, sich die Frage zu stellen, ob sie Ebba mitnehmen würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort wissen wollte.
»Darf ich sie rausholen?« Inez zuckte zusammen, als sie Johans Stimme hörte. Sie faltete die Bettwäsche und hatte gar nicht gemerkt, dass er in die Waschküche gekommen war.
»Na klar, nimm sie nur«, sagte sie. Johan war auch ein Grund zu bleiben. Er liebte sie, und er liebte seine kleine Schwester. Seine Zuneigung wurde erwidert. Wenn Ebba ihn erblickte, strahlte sie übers ganze Gesicht. Nun streckte sie ihm die Ärmchen entgegen.
»Komm, Ebba«, sagte Johan. Die kleine Schwester legte ihm die Arme um den Hals, ließ sich von ihm aus dem Laufstall heben und drückte sofort ihre Wange an seine.
Inez unterbrach ihre Arbeit und betrachtete die beiden. Ein Anflug von Eifersucht überrumpelte sie geradezu. Sie wurde von Ebba nie mit so bedingungsloser Liebe angesehen, sondern eher mit einer Mischung aus Traurigkeit und Sehnsucht.
»Sollen wir uns die Vögel angucken?« Johan rieb seine Nase an Ebbas, und das kleine Mädchen kiekste vor Freude. »Darf ich sie mit nach draußen nehmen?«
Inez nickte. Sie vertraute Johan, weil sie wusste, er passte auf, dass Ebba nichts zustieß.
»Klar, geht ihr nur.« Sie beugte sich wieder zum Wäschekorb hinunter. Während die Kinder sich entfernten, war ununterbrochen Ebbas fröhliches Lachen zu hören.
Dann hörte sie die beiden nicht mehr. Stille hallte von den Wänden wider. Sie setzte sich auf den Fußboden und ließ den Kopf hängen. Das Haus hatte sie so fest im Griff, dass sie kaum Luft bekam, und das Gefühl, eingesperrt zu sein, wurde von Tag zu Tag stärker. Sie bewegten sich auf einen Abgrund zu, aber sie konnte nichts, rein gar nichts dagegen tun.
I m ersten Moment hatte Patrik das Piepsen seines Telefons ignorieren wollen. Percy sah aus, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen, und in Anbetracht der Waffe in seiner Hand konnte das katastrophale Folgen haben. Gleichzeitig waren alle hypnotisiert von Leons Stimme. Er erzählte von Valö, vom Beginn ihrer Freundschaft, von Familie Elvander und Rune und wie langsam, aber sicher alles aus dem Lot geraten war. Ia stand die ganze Zeit neben ihm und streichelte seine Hand. Nachdem Leon ausführlich die Vorgeschichte geschildert hatte, schien er zu zögern. Patrik begriff, dass sich Leon dem Ende ihrer Freundschaft näherte.
Bald würden sie die Wahrheit erfahren, aber aus Sorge um Erica konnte er es sich nicht verkneifen, einen Blick auf sein Handy zu werfen. Eine Mitteilung von Anna. Hastig klickte er sie an. Beim Lesen begann seine Hand unkontrolliert zu zittern.
»Wir müssen sofort nach Valö!«, unterbrach er Leon mitten im Satz.
»Was ist passiert?«, fragte Ia.
Martin nickte. »Jetzt erzähl erst mal in Ruhe, was los ist.«
»Ich glaube, Mårten hat das Feuer gelegt und neulich auf Ebba geschossen. Und nun hat er Gösta und Erica in seiner Gewalt. Anna und Ebba sind seit gestern verschwunden
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