Die Engelsmuehle
nach vorne und spähte in die Tiefe, bis er ein schmales Felsplateau ausmachte, das unter das Wrack reichte. Er konnte sich an einem der Seile zu dem Vorsprung hinunterlassen. Von dort aus war es möglich, das Auto näher zu inspizieren.
Der Karabinerhaken saß fest, das Seil war weder spröde noch rissig, und so schlang er es sich um den Körper. Danach ließ er sich die zwei Meter an der Felswand entlang hinunter, bis er mit den Füßen das Plateau erreichte. Neben ihm hing der Mercedes kopfüber zwischen den Felsen eingekeilt. Der Wagen war mit einer derartigen Wucht in die Spalte gekracht, dass ihn nicht einmal ein Erdbeben freibekommen würde. Alle vier Reifen waren platt, die Scheiben gesplittert, die Radkappen fehlten und sowohl Kühlergrill als auch Stoßstange hingen in Fetzen von der Karosserie. In der Beifahrertür und im Dach waren noch die Spuren von der Kreissäge zu sehen, mit der die Feuerwehrleute das Auto geöffnet hatten, um die Leichen freizubekommen. Hogart schob sich an der Felswand zum Auto und lugte ins Wageninnere. Der Zündschlüssel war abgezogen, das Handschuhfach geleert. Die Ledersitze waren vom Regen aufgequollen, ebenso die Fellbezüge auf dem Lenkrad und dem Schaltknüppel. Der Tacho zeigte einen Stand von über 215.000 Kilometern, und die Nadel der Benzinanzeige hing träge im roten Reservebereich.
Obwohl der Wagen der reinste Trümmerhaufen war, steckte der Mercedesstern noch dran. Vor dem Sturz war dieser Achtzigerjahre-Mercedes-Benz ein feines Automobil gewesen. Entsprechend der Plakette auf der gesplitterten Windschutzscheibe wäre die nächste TÜV-Überprüfung erst im September 2005 fällig geworden.
Hogart löste das Seil von der Hüfte, ging in die Hocke und lugte unter den Wagen. Da das Wrack schief im Felsen hing, konnte er unter die Bodenplatte kriechen. Die Achse war zwar nicht gebrochen, aber komplett verzogen. Unter dem Auto stank es erbärmlich nach Kot und Urin. Großartig. Vermutlich schob er sich mit den Beinen soeben in die Behausung eines Marders hinein. Aber seine Kleider waren ohnehin schon ruiniert, also kam es darauf auch nicht mehr an.
Er leuchtete mit der Taschenlampe über die Bodenplatte. Zwischen den Rädern sah er in den Motorblock. Zwar war er kein Mechaniker, doch hatte er im Lauf seiner Tätigkeit als Versicherungsdetektiv bereits einige Unfallwagen auf Manipulationen untersucht. Einen fünfundzwanzig Jahre alten Mercedes hätte man am leichtesten an den Bremsschläuchen manipulieren können. Hogart tastete mit den Fingern von der Bremsscheibe am Schlauch entlang, als plötzlich das Handy in seiner Hosentasche vibrierte.
»Scheiße.« Er versuchte gar nicht erst, unter dem Wagen hervorzukriechen, sondern legte die Taschenlampe beiseite und fingerte mühsam das Handy hervor. Vielleicht war es Elisabeth Domenik, die von ihrem Büro in der Versicherung zurückrief.
»Hallo?«, keuchte er.
»Hogart?« Es war Kohlschmieds Stimme, wie immer völlig genervt. »Ich brauche Sie hoffentlich nicht daran zu erinnern, was morgen für ein Tag ist?« Der Außendienstleiter von Medeen & Lloyd rief immer zum ungünstigsten Zeitpunkt an. Wenn Hogart es nicht besser wüsste, hätte er meinen können, Kohlschmied verfüge über die außergewöhnliche Fähigkeit, seine Freelancer stets dann anzurufen, wenn er ihnen am meisten auf die Nerven ging.
»Kohlschmied, ich rufe Sie in einer Stunde zurück …«
»Nein, das tun Sie nicht - das tun Sie nie, um genau zu sein!«, rief der kleine Mann mit der Pomadenfrisur. »Wie steht es um Ihre Ermittlungen? Kann ich Kommerzialrat Rast bereits eine Erfolgsmeldung berichten?«
Ja, richten Sie Rast aus, dass ich inmitten eines großen Haufens Marderscheiße stecke, antwortete Hogart in Gedanken. Im Hintergrund hörte er den Versicherungsmann nervös eine Kugelschreibermine rein- und rausdrücken.
»Ich …« Hogart zuckte zusammen, als etwas auf das Dach des Wagens sprang. Er versteifte sich und hielt den Atem an.
»Was?«, bellte Kohlschmied.
Ein Tier trippelte übers Dach, kurz danach über den Kofferraumdeckel. Das musste der verdammte Marder sein, der den Boden unter dem Wagen vollgeschissen hatte.
»Ich arbeite mit Elisabeth Domenik zusammen«, presste Hogart hervor. Nervös blickte er zwischen seinen Beinen auf den Felsvorsprung, wo er aber nichts erkennen konnte. »Es ist noch zu früh für konkrete Hinweise. Wir warten das Ergebnis des chemischen Labors ab, in das …«
»Frau Domenik hatte einen Autounfall!«,
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