Die Engelsmuehle
brannten nicht mehr. Trotzdem erkannte er die beiden Kerle, die immer noch in dem blauen Toyota saßen. Warum fuhren die Typen des Observierungsteams bloß immer so auffällige Wagen?
Er griff in Gedanken versunken in die Sakkotasche. Sie war leer. Natürlich. Was hätte er dafür gegeben, jetzt eine Zigarette zu rauchen.
Am nächsten Morgen läutete der Postbeamte um acht Uhr früh an Hogarts Tür, um einen Expressbrief zu überbringen. Als Hogart das Emblem des Landesgerichts neben dem österreichischen Adlerwappen sah, schrumpfte sein Magen auf die Größe einer Walnuss zusammen. Die auf blassgrünem Recyclingpapier gedruckten Fensterkuverts der Behörde verhießen nie etwas Gutes. Die Wiener Staatsanwaltschaft hatte Eichingers Anzeige dem Gericht vorgelegt, und dieses Schreiben enthielt Hogarts Vorladung zu Gericht - eine Anhörung, um den Tatbestand abzuklären, wie es hieß. Der Termin war noch heute, um 13.15 Uhr, die Richterin hieß Margaret Braunstorfer - und auch das bedeutete nichts Gutes. Sie trug den Spitznamen Die Eiserne Lady nicht umsonst - dagegen war Margaret Thatcher eine nette, einsichtige Dame.
Hogart zerknüllte die Vorladung. Normalerweise zogen sich derartige Amtshandlungen über Wochen hin, doch sobald es um persönliche Interessen ging, mahlten die Mühlen der Bürokratie ein wenig schneller als sonst. Sowohl Eichinger als auch Staatsanwalt Hauser wollten ihn so rasch wie möglich von der Bildfläche verschwinden lassen. Doch den Gefallen wollte er ihnen nicht tun. Allerdings konnte er sich auf eine saftige Ansprache der Richterin einstellen. Am besten wäre natürlich, wenn er gleich mit Dr. Fliesenschuh im Gerichtssaal aufkreuzte. Der Anwalt vertrat immer mehr Mitglieder der Familie Hogart. Vielleicht gewährte Fliesenschuh sogar Familienrabatt?
Doch im Moment war es besser, nichts zu überstürzen. Hogart versuchte zunächst, Garek zu erreichen, doch dessen Handy war ausgeschaltet. Auf der Dienststelle ging auch niemand ran. Nach dem dritten Läuten wurde der Anruf auf Gomez’ Handy umgeleitet, der ziemlich gehetzt klang, als stünde er gerade mit einer Hand im Sakkoärmel zwischen Tür und Angel. Nach einem knappen »Hallo Hog - diesmal musst du mehr als fünfzig Euro springen lassen«, erfuhr er, dass Gomez auf dem Weg zu Linda Bohmann war, um sie zum Zentralfriedhof zu begleiten, wo sie sich mit Garek und Eichinger treffen wollte.
Unwillkürlich starrte Hogart aus dem Fenster. »Was zum Teufel macht ihr auf dem Friedhof?« Ein bleierner Nebelschleier lag über der Stadt. Perfekt für einen morgendlichen Spaziergang zwischen den Grabreihen.
»Diese Bohmann ist schlimmer als meine Mutter. Die kommandiert uns ganz schön rum«, murrte Gomez. »Sie möchte bei der Exhumierung unbedingt dabei sein … du, ich muss los, bis später.«
Exhumierung? Hogart verzichtete auf ein Frühstück und kippte den Rest des schwarzen Kaffees in den Ausguss. Er schlüpfte in seine neuen Lackschuhe, einen dunklen Anzug und Mantel, und fuhr ebenfalls zum Friedhof.
Der Wiener Zentralfriedhof beherbergte mittlerweile doppelt so viele Tote, wie die Stadt Einwohner hatte. Auf dem Areal befanden sich neben der katholischen auch eine evangelische, israelitische, islamische und eine russisch-orthodoxe Abteilung - und falls man nicht genau wusste, wohin man wollte, konnte man sich hier tagelang verirren.
Hogart parkte vor dem Osttor. Irgendein Witzbold hatte einen handgeschriebenen Zettel »Heute Ruhetag« auf das Eingangstor gehängt, der im Wind hin und her flatterte. Am Donnerstagvormittag war die Tür des Wärterhäuschens jedoch tatsächlich abgesperrt. Er konnte also den ganzen Friedhof nach einer Graböffnung absuchen. Während er an den Mausoleen und Marmorsockeln vorbeiging und ihm die Morgenkälte unter den Mantel in den Anzug kroch, stiegen einige in Vergessenheit geratene Erinnerungen in ihm hoch.
Als Kinder hatten sein Bruder und er, kaum älter als fünf und acht Jahre, ihren Vater an den nebeligen Herbstnachmittagen oft zu diesem Friedhof begleitet. Wenn ihr alter Herr gerade wegsah, zeichneten sie Figuren mit der Schuhspitze in die Kieswege oder ließen Kastanien über die Marmorplatten springen. Drei aufeinanderfolgende Gräber und eine Engelskulptur waren Kurts Rekord gewesen. Manchmal liefen sie auch den Krähen hinterher oder stießen sich gegenseitig in die Laubberge, die die Gärtner am Wegesrand angehäuft hatten. Während ihrer langen Spaziergänge auf den endlosen Wegen, die
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