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Die Engelsmuehle

Die Engelsmuehle

Titel: Die Engelsmuehle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Gareks Stimme im oberen Stockwerk hörte, schlug er die Mappe rasch zu und legte sie in eine Blechschatulle, die er unter einem Stapel Zeitschriften fand. Sein Herzschlag beschleunigte. Er hielt inne und lauschte. Auf der Treppe blieb es still.
    Ohne etwas anderes zu berühren, ging Hogart durch den mit Staffeleien vollgestellten Raum und betrachtete Madeleines Gemälde. Der Narrenturm-Zyklus! Zusammengekrümmte Föten, missgestaltete Babykörper, vernarbte Gesichter, amputierte Gliedmaßen, Nähte und offene Wunden. Dem Geist eines wahnsinnigen Arztes entsprungen und von einer noch verrückteren Malerin in grässlichen Rot- und Orangetönen auf Leinwand gebannt.
    Unwillkürlich erinnerte sich Hogart an die Fotos von Ostrovskys und Dornauers Leichen, die ihm Gomez in die Wohnung gebracht hatte. Den zu Tode gefolterten Faltl hatte er mit eigenen Augen in dessen Badewanne gesehen. Im Licht von Madeleines Wahnsinn ergaben die Morde einen neuen Sinn. Drei bizarre Gemäldezyklen und drei bizarre Morde.
    Ostrovskys malträtierter, zerschnittener und zu einer Fötusstellung auf den Stuhl gefesselter Körper erinnerte an die Motive aus dem Narrenturm-Zyklus. Man hätte die Fotos der Kripo und des Gerichtsmediziners direkt neben die Gemälde halten können - als hätte Ostrovskys Körper Modell für diese Bilder gestanden.
    Dornauers nackter, vom Schwefelwasser aufgedunsener Körper, der kopfüber in der Zinkwanne seiner Reha-Klinik getrieben hatte, erinnerte an die Pestgruben außerhalb der Stadt, jenes Werk, das Hogart selbst in der Ausstellung im Michaelerkeller gesehen hatte. Zuletzt glich der an den Armen in seiner eigenen Badewanne aufgehängte Faltl mit Dutzenden Nägeln im Körper wie ein zu Fleisch gewordener Stock im Eisen … einem Mann auf jenem Gemälde, das in Lindas Büro in der Akademie hing. Sie selbst hatte ihm erklärt, dass es aus jener Zeit stamme, als Madeleine einen Bilderzyklus über die Wiener Legenden gemalt hatte. Ostrovsky, Dornauer, Faltl … entsprechend der Todeszeit, die Bartoldi festgestellt hatte, war das die Reihenfolge der Morde in jener Nacht von Freitag auf Samstag. Je weiter die Taten voranschritten, desto mehr ließ sich Madeleine von ihren älteren Zyklen inspirieren, als reise sie gedanklich in ihre Vergangenheit. Würde es je zu einem vierten Mord kommen, orientierte sie sich möglicherweise an dem Motiv aus einem ihrer Frühwerke.
    Natürlich würde kein Richter der Welt auch nur eine Sekunde verschwenden, um Hogarts Gedankengängen zu folgen, aber die Verbindung war zu auffällig, als dass es sich dabei um reinen Zufall handeln konnte. Ziemlich sicher hatten Madeleines Morde Methode, denn einen gewissen Sinn für Symbolik besaß sie … andernfalls hätte sie die Schere, mit der sie ihre Schwester vor knapp zwanzig Jahren verstümmelt hatte, kaum bis zum heutigen Tag aufbewahrt, um damit neue Opfer zu malträtieren. Diesmal Menschen, die ihrer Schwester nahestanden. Wieder kam ihm Gareks Idee in den Sinn, die beiden Frauen könnten unter einer Decke stecken. Doch Garek irrte sich, die beiden lebten in zwei gänzlich unterschiedlichen Welten.
    Hogart brauchte plötzlich frische Luft. Die morbide Atmosphäre trieb ihn noch in den Wahnsinn. Er stürzte ins Freie und inhalierte die kühle Waldluft. Als er die Erde und die Föhrennadeln roch, entspannte er sich wieder. In weiter Ferne grollte ein leiser Donner. Das Gewitter rückte näher.
    Während er zur Rückseite der Mühle ging, dachte er über alles nach. Dabei durchsuchte er seine Manteltaschen, erinnerte sich jedoch wieder, dass er alle Zigaretten weggeworfen hatte. Hinter dem Gemäuer lag tatsächlich das ausgetrocknete Bachbett, das Madeleine ihm beschrieben hatte. Äste und Nadeln knirschten unter seinen Schuhen. Aus dem Wald drang der Ruf eines Käuzchens. Ihm fiel die Sage vom Müllers ein, der seine Frau angeblich in den Brunnen gestoßen hatte, worauf die Quelle versiegt war. Nichts weiter als eine alte Sage. Trotzdem war Madeleine davon besessen, ebenso von der Geschichte der Engelmacherin, die in der Mühle gelebt und Tausende Babys abgetrieben hatte. Eine ziemlich inspirierende Gegend für eine durchgeknallte Künstlerin.
    Hogart lief das Bachbett entlang, um die Mühle herum, bis er wieder zum Brunnen kam. Die Steine ragten hüfthoch aus dem Erdreich. Zu beiden Seiten waren die Vertiefungen zu erkennen, in denen früher wohl das Holzgerüst mit Kurbel und Seilwinde gesteckt hatte, um einen Eimer in den Brunnen

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