Die englische Episode
vernünftige Stimme in ihrem Kopf, ‹warum sonst?›
‹Damit mich niemand hören kann›, zischte die andere, die unvernünftige.
Helena war schuld. Die hatte so lange davon geredet, dass Hebbel ein Mörder sein konnte. Nun war das Fenster verschlossen, niemand, der sie noch hören könnte – was für ein Unsinn. Sie musste nur entschieden sagen, dass sie gehen wolle. Er würde den Schlüssel aus der Tasche holen und die Tür aufschließen – und sie würde sich töricht vorkommen. Ganz gewiss sehr töricht.
Eine Diele knarrte leise und er stand wieder vor ihr. «Ist Euch nicht wohl?», fragte er.
«Doch, sehr wohl», log sie. «Wirklich. Es ist nur spät, ich sollte besser gehen. Wenn Ihr so freundlich wärt, die Tür aufzuschließen. Meine Familie sorgt sich, wenn ich noch länger ausbleibe. Ich werde erwartet. Man weiß, wo ich bin, auch bei wem, aber ich werde doch längst erwartet.»
Da hob er die Hand und sie sprang erschreckt einen Schritt zurück. Langsam ließ er die Hand sinken.
«Ihr habt Angst», sagte er leise. «Ihr habt vor mir Angst. Warum?»
«Aber nein, überhaupt nicht. Ich bin einfach eine dumme, schreckhafte Person. Aber wie ich schon sagte, ich werde erwartet, und wenn ich …»
«Natürlich.» Er fuhr sich heftig mit beiden Händen durch das Haar, die Nackenschleife löste sich und rutschte über seinen Rücken zu Boden. «Natürlich. Jetzt weiß ich, warum Ihr mir gleich so vertraut erschient. Ich habe Euch in Hamburg gesehen. Wer immer dieser ‹Onkel› mit den Münzen sein mag,
Ihr
seid die Komödiantin, die im vorletzten Jahr den Mörder dieses Lehrers gefunden hat. Alle haben davon geredet und der alte Hachmann hat mir Euch auf Eurer Bühne gezeigt. Nur saht Ihr unter der Schminke und in den Kostümen anders aus.» Er lachte laut auf. «Sucht Ihr nun etwa Kloths Mörder? Hier in London?» Und plötzlich begriff er: «Denkt Ihr etwa, ich habe Kloth getötet?»
Sie starrten einander an und er trat behutsam einen Schritt zurück. Langsam zog er den Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn hoch.
«Genau das denkt Ihr, ich kann es in Eurem Gesicht lesen. Ihr müsst sehr dumm sein», stieß er bitter hervor. «Euch am Abend allein zu einem Mörder zu wagen. Der Geselle tötet seinen Faktor. Warum? Aus blinder Eifersucht? Findet Ihr das nicht ein bisschen zu simpel? Ob Ihr es glaubt oder nicht: Ich bin es nicht gewesen. Ich bin schon am Tag vor Kloths Tod abgereist. Es ist absurd», rief er und schlug mit der flachen Hand auf den Deckel der Presse, «ich könnte niemals etwas tun, was Madame Boehlich Kummer bereitet. Wenn Ihr herausfinden wollt, wer Kloth getötet hat, wäret Ihr besser in Hamburg geblieben, der feine Herr Faktor war nämlich gar nicht …»
Das Dröhnen kräftiger Faustschläge gegen die Eingangstürließ ihn erschreckt zusammenfahren. Vor wenigen Minuten noch hätte Rosina das ungestüme Hämmern als Erlösung empfunden. Doch obwohl es, wie Hebbel selbst gesagt hatte, vielleicht wirklich dumm war, hatten seine bitteren Worte und die Verletzlichkeit in seinen Augen ihre Angst weggewischt, jedenfalls genug, um ihre Neugier wieder die Oberhand gewinnen zu lassen.
«Es stimmt», sagte sie rasch, «Ihr steht in diesem Verdacht, wenn auch nicht mehr bei mir.» Wieder hämmerte eine Faust gegen die Tür. «Ihr solltet besser aufschließen, bevor das Holz in Stücke geht. Und dann möchte ich von Euch hören, was Kloth
nicht
war. Dass Ihr Euren Satz beendet», erklärte sie ungeduldig, als er immer noch dastand und sie anstarrte, «Ihr habt gesagt: ‹Kloth war gar nicht …›.»
Sie griff nach dem Schlüssel in seiner Hand, rannte durch den Raum, sprang die Stufen hinunter und öffnete die Tür.
«Endlich», rief Wagner, «ich dachte schon, Ihr wäret tot. Verdammt, Rosina, wie könnt Ihr so leichtfertig sein! Allein hierher zu gehen, am Abend, wenn die Druckerei leer ist.»
«Regt Euch nicht auf, Wagner, es ist ganz umsonst. Aber ich freue mich sehr, Euch zu sehen und dich auch», sie strubbelte Muto durch sein zerzaustes rotes Haar. «Ihr kommt gerade zur rechten Zeit, ich glaube, es gibt endlich Neues zu hören.»
KAPITEL 10
Die Nacht war schon schwarz, als Rosina, Wagner und Muto den Temple Bar passierten und weiter die Butcher Row hinuntergingen, nur ab und zu zeigten sich zwischen Wolkenfetzen ein paar Sterne. Anders als in Hamburg, wo um diese Stunde längst die Nachtwächter patrouillierten und mit heiseren Rufen aufforderten, Feuer und Licht zu
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