Die englische Episode
sehr sie auch darauf wartete, er öffnete sie nicht wieder.
Als sie am Morgen erwachte, ganz gegen ihre Erwartung hatte sie doch einige Stunden tief geschlafen, schien die Sonne in ihr Zimmer. Im Garten zwitscherten Vögel im Übermut, und für einen Augenblick lang glaubte sie, die nächtliche Szene nur geträumt zu haben. Dann sprang sie aus dem Bett, wieder voller Zuversicht und Tatendrang, und beschloss, dass ihre Versicherung, einige Tage zu warten, kein echtes Versprechen gewesen war. Sie hatte das Warten satt. Egal, was William wünschte.
«Lady Florence», Molly schob die Tür auf, einen gefüllten Korb in den Armen und kippte seinen Inhalt schwungvoll auf das Bett. «Wir finden bestimmt etwas. Nur für Euer Haar müssen wir uns noch etwas einfallen lassen. Am besten mit der Brennschere, ja. Und dies hier», sie zog ein zierlich bemaltes Döschen aus ihrerRocktasche, «wird sicher auch helfen. Es ist eine schrecklich ordinäre Farbe.»
Mit ernstem Gesicht öffnete sie den Deckel und Florence nickte zufrieden. Das Rouge sah in der Tat wunderbar ordinär aus.
***
Die Droschke rumpelte durch die schmale Hintergasse und hielt neben einer Remisentür, der Schlag flog auf, ein schlanker junger Mann steckte den Kopf heraus und sah sich suchend um.
«Und?», brummte eine Stimme aus der Kutsche. «Ist sie da?»
Eine Antwort erübrigte sich, denn eine Gestalt in wasserblauem Kattun, trotz des warmen Abends fest in ein üppiges Schultertuch gehüllt, huschte auf festen ledernen Schuhen hinter einem Haselstrauch hervor und sprang rasch in den Wagen.
«Verzeiht mein Zögern», sagte sie, als die Droschke sofort wieder anfuhr, «ich habe Euch nicht gleich erkannt. Eure Maskerade ist einfach perfekt, Rosina, niemand kann Euch für etwas anderes als einen jungen Herrn halten.»
Rosina lachte. «Alles nur eine Frage der Übung», versicherte sie. Florence’ Überraschung erstaunte sie nicht, es war die übliche Reaktion, wenn sie als Reichenbach, der junge Reisende aus Sachsen, auftrat. Eine Rolle, die nicht für die Bühne, sondern ausschließlich für das reale Leben reserviert war, für einige Stunden in männlicher Bewegungsfreiheit, und die sich schon oft als hilfreich erwiesen hatte. Heute hatte sie die Maske um dunkel gepudertesHaar variiert. Ihr natürliches helles Blond veränderte sie zu wenig, vor allem aber konnte es im Dunkeln zu einem verräterischen hellen Fleck werden.
«Ihr seid auch gut gelungen, Florence», sagte sie. «Niemand würde Euch für eine echte Lady halten. Dennoch hoffe ich, dass Euer Gatte nicht zu genau hinsieht. Wo, um Himmels willen, habt Ihr dieses Rouge aufgetrieben?»
«Meine Zofe hat es irgendwo ausgegraben, aber glaubt nicht, dass sie es selbst benutzen würde.» Florence zog einen winzigen Spiegel aus ihrem Täschchen, beugte sich zum Fenster und betrachtete im letzten Licht des Tages ihr buntes Gesicht. «Es ist wunderbar schrecklich, nicht wahr? Allein deswegen darf mich niemand erkennen, ich könnte mich in keinem Salon mehr sehen lassen. Und Ihr seid Mr. Titus?», wandte sie sich an den Mann mit dem struppigen gelben Haar, der ihr und Rosina gegenübersaß und beinahe die ganze Breite der Bank einnahm.
«Titus», er neigte höflich den Kopf, «nur Titus.»
«Ich bin Euch sehr dankbar, dass Ihr uns begleitet, Titus, wirklich. Es ist immer gut, jemanden zur Seite zu haben, der, nun ja, der sich auskennt.»
Titus nickte schnaufend zu den würdigen Worten und schwieg. Natürlich hatte er keine Sekunde gezögert, als Rosina ihn bat, mit ihr zu dem Cockpit auf den Tothill Fields zu fahren. Es war ihm allemal lieber, sie an seltsame Orte zu begleiten, als sich vorzustellen, wo sie sich wieder alleine herumtrieb, nämlich mit Vorliebe dort, wo Frauen nichts zu suchen hatten, schon gar nicht ohne männlichen Schutz. Dieser Ausflug, so hatte er gedacht, würde ihm auch noch Vergnügen bieten, denn so ein englisches Cockpit wollte er unbedingt erleben. Dass Rosinadort dem Mann nachspionieren wollte, der wahrscheinlich diesen zwielichtigen Hamburger Faktor und auch Alma Severin getötet hatte, war ihm nur recht. Er hatte nichts dagegen, den Kerl in die Finger zu kriegen.
Die Sache mit der an ihrem Ehemann leidenden Lady hatte sie ihm erst ganz zum Schluss gesagt. Auch dazu hatte er nur schweigend genickt, obwohl er es für keine gute Idee hielt. Doch es war nun mal abgesprochen und Titus verschwendete nur ungern Worte.
Es war in der Tat schwierig, sich vorzustellen, dass
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