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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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diese als Ladenmädchen im Sonntagsstaat ausstaffierte junge Frau mit den wirren, tief ins Gesicht frisierten Haaren zu den reichen Familien der Stadt gehörte. Die ein wenig zu große Haube, fest über ihre mahagonifarbenen Locken gezogen, schien ihm nicht einmal ganz rein. Das einzig Verräterische war ihr Dekolleté. Es war eindeutig zu züchtig für die Rolle, die Lady Florence heute spielen wollte, aber vielleicht war das gar nicht dumm. Je tiefer der Ausschnitt, umso genauer gafften die Kerle, umso größer die Gefahr, dass einer der feinen Herren, die sich dort auch aufhalten sollten, sie erkannte. Diesem Mädchen würde kaum einer zweimal hinterhersehen.
    Bevor er endgültig seinen Blick dem Fenster und den vorbeiziehenden Straßen zuwandte, betrachtete er noch einmal die beiden Frauen, die ihm gegenübersaßen, und fand, dass sie durchaus als ein reisender Student vom Kontinent mit seiner Zwei-Tage-Liebschaft durchgehen konnten. Dennoch befürchtete er das Schlimmste. Es war schwer genug, auf Rosina allein aufzupassen. Aber die wusste sich auf fremdem Terrain sicher zu bewegen und erkannte brenzlige Situationen (was leider nicht hieß, dass sie ihnen aus dem Weg ging!). Die junge Lady hingegenwürde in jede Falle laufen und gewiss in Ohnmacht fallen, wenn sich die erste klebrige Männerhand an ihren vornehmen Körper verirrte.
    «Ihr müsst versprechen, immer bei uns zu bleiben», hörte er Rosina sagen, als die Droschke die Straße zur Pferdefähre und damit die letzten Häuser hinter sich ließ, um auf den Weg über die Tothill Fields einzubiegen, «solltet Ihr mich im Gedränge verlieren, haltet Euch an Titus. Egal, wie düster und voll es dort sein mag, er ist nicht zu übersehen.»
    Titus unterdrückte ein Schnaufen. Für einen Moment argwöhnte er, Rosina habe die Sache mit Lady Florence absichtlich arrangiert, damit er beschäftigt und von ihr abgelenkt sei.
    «Das ist ein leichtes Versprechen», antwortete Florence und blies eine der herabhängenden Locken von ihrer Nase. «Ich muss gestehen, dass ich sehr aufgeregt bin und mit Vergnügen neugierig, obwohl dieses Unternehmen einen traurigen Anlass hat. Aber ich bin nicht töricht und werde an Euch kleben wie Leim, ich wüsste ja nicht einmal, wie ich von dort wieder nach Hause finden sollte.»
    «Und lasst Euch von niemandem zu Branntwein verführen», fuhr Rosina streng fort. «Oder zu Gin. Ihr seid solche Getränke nicht gewöhnt, jedenfalls nehme ich das an, sie könnten Euch zu äußerst ungesundem Leichtsinn verführen.»
    Florence nickte seufzend. Sie hatte gedacht, die Zeiten der Gouvernanten seien längst und endgültig vorbei.
    Wieder fiel ihr der Wolf ein, doch nur, weil sie sich auch jetzt wie in einem Traum fühlte. Da saß sie in Kleidern aus den Vorräten für das Gesinde in einer ruckelnden,außerordentlich schlecht gefederten Droschke, neben sich eine verkleidete Komödiantin, gegenüber einen Hanswurst, der weniger nach einem Spaßmacher aussah als an einen der Normannen erinnerte, die einst England überrannt hatten. Und vor ihr lag der Besuch eines schmutzigen Cockpits und – vielleicht – die Lösung des Rätsels von Williams Geheimnis. Ihr Geist war überwach, ihr Körper gespannt wie die harte Sehne eines Bogens, in ihrer Kehle lauerte ein beständiges Kichern und ihre Hände berührten einander kalt und feucht.
    Es war Rosinas Idee gewesen, gemeinsam hierher zu fahren. Zweifellos eine rettende Idee, alleine hätte sie sich bei aller Entschlossenheit kaum getraut, und Molly wäre bei diesem Unternehmen wahrhaftig keine Hilfe gewesen. Als sie Rosina auf dem Friedhof traf, hatte sie sie nur um etwas bitten wollen.
    «Wenn es möglich ist», hatte sie gesagt, immer im Gefühl, Mrs.   Kjellerups Freundin zu beleidigen, «nur wenn es möglich ist, könntet Ihr mir vielleicht zeigen, wie man sich grob benimmt? Verzeiht, Ihr seid nicht grob, ganz gewiss nicht. Aber ich dachte, nun, ich dachte, auf der Bühne spielt Ihr sicher auch Rollen, zu denen Grobheit gehört, zumindest hin und wieder.»
    Sie wolle lernen, sich wie eine Schankmagd zu verhalten oder wie die Frauen auf den Märkten und in den Kellern am Hafen. Mrs.   Kjellerup habe gesagt, Miss Hardenstein spiele, falls es notwendig erscheine, auch mancherlei Rollen, wenn sie nicht auf der Bühne stehe.
    «Könnt Ihr mir zeigen, wie Ihr das macht? Wie es geht, sich grob und gewöhnlich zu benehmen?»
    Es dauerte nicht lange, bis sie der doch beinahe völlig fremden Frau neben

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