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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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war wie ihres am Neuen Wandrahm in Hamburg, war Augusta froh, dass die beiden Seitenflügel wieder vom Haupthaus abgetrennt worden waren. Die Suche nach der richtigen Tür gestaltete sich auch so schon schwierig. Doch nach anfänglichen Irrungen fand sie inzwischen ihr Zimmer spätestens beim zweiten Versuch.
    Heute allerdings war sie noch so sehr mit dem Gedanken an Florence beschäftigt, dass sie, nachdem sie die breite Haupttreppe unter der Glaskuppel mit ihrem weiß gestrichenen Geländer aus Balustersäulen hinaufgegangen war, den falschen Flur erwischte. Das schien ihr die einzige Erklärung, als sie schon geraume Zeit über lange Gänge und kleine Zwischentreppen gegangen war und sich schließlich in einem Flur wiederfand, den sie nie zuvor gesehen hatte.
    Sie blieb stehen und lauschte. In dem großen Haus, das außer seinen herrschaftlichen Bewohnern zahllose unermüdlich arbeitende dienstbare Geister beherbergte, war es still wie an einem frühen Sonntagmorgen. Sie glaubte eilige Schritte auf irgendeiner der Treppen zu hören, entfernt das Klappern von Töpfen, auch ein anderes Geräusch, das sie nicht zuordnen konnte. Dennoch, irgendein Diener oder eines der Mädchen war immer in der Nähe, sie müsste nur rufen, dann käme jemand und brächte sie zu ihrem Ziel – doch so schnell gab sie nicht auf.
    Durch ein schmales Fenster sah sie in den Hof hinunter. Unter dem ihres Zimmers lag der St.   James Square mit der gepflegten, von einem schmiedeeisernen Gitter eingefassten Rasenanlage in seiner Mitte. Nun aber blickte sie auf ein schmales Stück des hinteren Gartens. Das Gebäude an der linken Seite musste der Stall für die Pferde sein, an die sich die Remise anschloss. Die lang gestreckte Mauer verbarg sich hinter gepflegten Spalierobstbäumen, sie war nur durch eine schmale Pforte unterbrochen, neben der ein Rosenstock eine Fülle weißer Blüten der Sonne entgegenreckte. Die großen Türen für die Pferde und Kutschen befanden sich auf der anderen Seite. Sie öffneten sich zu einem kleinen Platz, nicht viel mehr als eine Ausbuchtung in einer der Gassen, durch die nachts der Unrat der Häuser abtransportiert wurde, ohne die Bewohner zu stören. Eine zweite Pforte für Dienstboten und Lieferanten, die sie von diesem Fenster nicht sehen konnte, öffnete sich direkt auf die Gasse.
    Diesen Teil des Gartens hatte sie noch nicht betreten, er musste hinter der hohen Hecke verborgen sein, von der sie gedacht hatte, dass sie das Grundstück begrenze.Wenn sie nun auf die linke Seite des hinteren Gartens hinuntersah, musste sie sich in die obere Etage des Wickenham’schen Flügels verirrt haben. Also war die Trennung der Häuser doch nicht so strikt, zumindest in der oberen Etage waren die alten Flure offen geblieben. Ihr Zimmer musste genau auf der entgegengesetzten Seite des Hauses liegen.
    Sie dachte an Florence Wickenhams bequeme Schuhe und machte sich auf den Weg. Bis sie das Ende des Flures erreichte, wurde das seltsame Geräusch, das sie zuvor schon gehört hatte, lauter. Nun war es eindeutig: Hinter der letzten Tür vor der Treppe – sie war schmal und aus einfachem Ulmenholz, woran Augusta schon beim Heraufsteigen hätte bemerken können, dass sie nicht mehr zum Wohnbereich der Familie und Gäste gehörte – weinte jemand.
    Florence, dachte sie und fand, dass sie das nichts angehe. Doch da wurde das Schluchzen lauter, sie vergaß alle höfliche Zurückhaltung, die sie sowieso oft nur als herzlose Bequemlichkeit empfand, und öffnete die Tür. In dieser abgelegenen Ecke des Hauses hatte sie nicht gerade den Damensalon der jungen Lady erwartet, dass sie sich in einer dämmerigen Wäschekammer wiederfand, überraschte sie trotzdem.
    An beiden Seiten des langen flurschmalen Raumes reihten sich solide Schränke, vor einem stand ein Korb mit frisch gebügelter Wäsche, hinter den weit geöffneten Türen stapelten sich Leintücher, die einen milden Duft nach Lavendel und Melisse verströmten. Wenn auch die anderen Schränke so gut gefüllt waren, konnte ihr Inhalt eine ganze Kompanie mit frischer Wäsche versorgen.
    Immer noch hörte sie das Schluchzen, und nun entdeckteAugusta halb hinter dem letzten Schrank verborgen eine zusammengekauerte Gestalt. Zu ihrem schlichten Kleid aus dunkelblauem Kattun trug sie Haube und Schürze aus dünnem Musselin – das war eindeutig nicht Lady Florence.
    Augusta berührte behutsam die bebende Schulter. «Kann ich helfen?», fragte sie leise. Mrs.   Pratt, Herrin über das

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