Die englische Episode
schreckensbleiches Gesicht.
Karla hockte zu einem dünnen Nichts zusammengekauert an dem Stein, tastete mit zitternden Fingern nach Rosinas Gesicht und seufzte tief auf. «Gott sei Dank», flüsterte sie. «Ich dachte schon, du bist auch ein Gespenst, wie der dunkle Mann. Aber Gespenster stolpern sicher nicht so hart über mein Schienbein. Ist er weg?»
Rosina nickte. Sie griff nach der Wolldecke, die ihr im Stolpern entglitten war, und legte sie Karla um die Schultern. «Geht es dir gut?», fragte sie leise, «hat er dich verfolgt?»
«Nein.» Karla verzog ihr Gesicht wie ein vergnügter Kobold. «Ich habe ihn zuerst gesehen, zum Glück war ich schon wach, und da habe ich mich gleich versteckt. Er war leicht auszumachen, aber ich», sie breitete ihre Arme aus, «ich nicht.»
Tatsächlich war sie in Mattis Hochzeitsgeschenk, einem langen Nachtgewand aus besticktem weichem Leinen, im Nebel kaum zu sehen. Wenn sie nicht gerade Kopf und Schultern über die Schwaden hob, was sie im Gehen tat. Sicher hatte auch der dunkle Mensch sie gesehenund war eilig davongeschlichen, als er Rosina kommen hörte. ‹Mr. Dibber›, schoss es ihr durch den Kopf, nur um den Gedanken gleich als dumm zu verwerfen. Was sollte der hier wollen? Außerdem war der Wirt dick wie ein Fass und der Schemen war ihr schmal erschienen. ‹Irgendein Nachtschwärmer›, dachte sie, nur um ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen, ‹der auf einer Bank abseits der Routen der Wächter seinen Rausch ausschlafen wollte.›
«Sicher war das ein armer Mann, der kein Obdach hat», flüsterte Karla. «Er konnte ja nicht wissen, wie leicht ich mich erschrecke. Gestern war niemand hier. Jedenfalls nicht, als ich aufgewacht bin.»
«Gestern? In der Nacht?»
Karla nickte bekümmert. «Dabei ist gar kein Vollmond mehr. Ich bin nämlich ein bisschen mondsüchtig. Eigentlich dachte ich, dass ich es hier vielleicht nicht bin, weil England doch so weit weg von zu Hause ist. Aber der Mond ist an der Themse genauso schön wie an der Elbe, und leider …» Sie zog die Schultern hoch, die selbst unter dem üppigen Nachthemd dünn erschienen, und senkte den Blick auf ihre schlammigen Zehen.
«Komm, Karla.» Rosina erhob sich von der Grabumrandung, auf die sie sich gehockt hatte, wickelte sich in ihr Tuch und zog Karla die Decke wieder über die Schultern. «Womöglich ist Wagner aufgewacht und macht sich schreckliche Sorgen, weil du verschwunden bist.»
«O nein», Karla kicherte und zeigte zu den Fenstern ihrer Zimmer hinauf. «Dann hätte er bestimmt eine Kerze angezündet, aber alles ist dunkel. Adam schläft immer sehr fest.»
«Dann wird es Zeit, dass wir ihn wecken. Schnell, esist kalt und wer weiß, wer sich als Nächster hier herumtreibt. Zwei Frauen im Nachtgewand können als ganz falsche Einladung verstanden werden.»
Karla erhob sich artig, schüttelte Kiesel und ein paar abgestorbene Grashalme aus ihrem Hemd und folgte Rosina, die schon zur Pforte eilte.
«Wirst du es Adam wirklich sagen?», fragte sie, immer noch flüsternd. «Bitte, sag es ihm nicht. Er macht sich nur unnütze Sorgen, dabei wache ich immer ganz schnell auf, jedenfalls meistens. Hier macht immer irgendetwas Lärm, gestern ratterte eine Kutsche vorbei und heute haben mich die Katzen geweckt.»
Rosina blieb stehen und verknotete die schon wieder rutschende Decke fest um Karlas Schultern. «Wie oft machst du das? Schlafwandeln, meine ich.»
«Nicht oft», beteuerte Karla, «nur ab und zu. Leider weiß ich es nie vorher, sonst würde ich in solchen Nächten einfach nicht schlafen. Es stimmt nämlich nicht, dass man es nur bei Vollmond tut. Obwohl das sehr praktisch wäre, dann wüsste ich immer Bescheid und könnte wach bleiben.»
«Oder einfach die Tür verriegeln. Und das Fenster! Du meine Güte, Karla, du musst es ihm sagen. Es kann doch gefährlich werden. Wenn du nun im Schlaf auf die Straße und vor diese Kutsche gelaufen wärst.» Von all den anderen Möglichkeiten wollte sie lieber nicht reden.
«Ach bitte, Rosina, sag es ihm nicht. Nicht gerade jetzt. Er hat schon genug Verdruss. Und dann der Kabeljau, ohne dieses Schreiben vom Senator ist es noch viel schwieriger für ihn. Ich will so gerne helfen und mache alles nur schlimmer.» Sie kroch tiefer in ihre Decke und lächelte verzagt. «Ich bin noch nicht daran gewöhnt, dasssich jemand um mich sorgt. Er will nicht mal, dass ich alleine irgendwo hingehe, und sei es nur auf die Piazza. Er hat sich furchtbar aufgeregt, nur
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