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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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glücklich.
    Im Moment schreibt Ihr mir am besten an die Adresse in Wellington.
    Eure Euch liebende Tochter,
Honor
    Diesen Teil des Briefes schreibe ich allein, ohne dass Honor davon weiß, die zusammen mit dem Baby schläft. Ich weiß nicht, ob sie Ihnen geschrieben hat, dass sie mit ihrer neuen Familie gebrochen hat. Anfangs hat sie ihnen die Schweigebehandlung verpasst, wahrscheinlich die Art Strafe, die euch Quäkern naheliegt. Dann ist sie weggelaufen, und jetzt wohnt sie bei mir.
    Honor kann schweigen, wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe. Aber eins sage ich Ihnen: Bei der Geburt des Babys hat sie genauso laut geschrien wie jede andere Frau, so laut sogar, dass sie jetzt noch heiser ist. Selbst Dr. Johns hat gestaunt, und er hat beileibe schon viel Geschrei mit anhören müssen. Doch es war gut, ihre Stimme einmal richtig laut zu hören, selbst wenn es aus Schmerz war.
    Sie sind Honors Familie, vielleicht können Sie sie zur Vernunft bringen. Honor weiß nicht, wie es mit ihr weitergehen soll. Eine Weile kann sie hier bei mir bleiben, doch ich werde bald sterben. Die Leber. Es ist ein langsamer Tod, aber er ist unausweichlich. Honor weiß das nicht und soll es auch nicht wissen. Sie hat ohnehin schon genug am Hals. Doch irgendwann wird es mich nicht mehr geben, und dann fällt der Laden in die Hände meines Bruders. Sie würden nicht wollen, dass Honor dann noch hier ist – es wäre eine Katastrophe.
    Und jetzt bekommen Sie noch gratis meine Meinung zu der ganzen Geschichte: Was Besseres als Jack Haymaker wird Honor nicht finden – zumindest nicht in Ohio. Wenn sie den perfekten Mann sucht, muss sie schon zurück nach England gehen. Und ob sie ihn dort findet, halte ich auch für ungewiss.
    Das Baby schreit, ich muss aufhören.
    Mit ergebenen Grüßen,
Belle Mills

Comfort – Trost
    Honor lernte Schaukelstühle doch noch zu schätzen. In Amerika standen sie überall: auf Eingangsveranden, in Küchenecken, in den Stuben von Gasthäusern, vor Saloons und vor den Öfen in Kaufläden. Andachtsräume und Kirchen waren mehr oder weniger die einzigen Orte ohne Schaukelstühle, wobei Honor bezüglich der Kirchen nur Vermutungen anstellen konnte, denn sie war noch nie in einer gewesen.
    Vor Comforts Geburt hatte Honor sich mit Schaukelstühlen nicht anfreunden können, weil sie das Gefühl hatte, dass man demonstrativ dem Müßiggang frönte, wenn man darin saß. Wenn neben ihr jemand in einem Schaukelstuhl wippte, fühlte sie sich durch den von einem anderen Menschen vorgegebenen Rhythmus gestört. Die Amerikaner stellten ihren persönlichen Lebensrhythmus viel unbekümmerter zur Schau als die Engländer und kamen gar nicht auf die Idee, dass sie ihre Mitmenschen damit belästigen könnten. Die Menschen gingen hier meist einfach ihren Weg: Sie waren stolz auf ihre Individualität und ließen es alle Welt wissen.
    Wenn Honor bei anderen Familien in Faithwell zu Besuch gewesen war, hatte sie immer einen festen Stuhl mit geradem Rücken gewählt. Sie hatte behauptet, dass sie auf einem festen Stuhl besser an den mitgebrachten Nähsachen arbeiten könne, aber in Wahrheit wollte sie nicht vor anderen Menschen schaukeln und ihnen ihren inneren Rhythmus aufzwängen.
    Nach Comforts Geburt jedoch erkannte Honor, wie beruhigend das Schaukeln auf Mutter und Kind wirkte. Oft saß sie mit ihrer Tochter in dem Schaukelstuhl, der neben dem Ofen in Belles Laden stand. Die Kundinnen lächelten und nickten ihr zu, während sie Comfort stillte oder in den Schlaf wiegte. Es schien niemanden zu stören.
    Vielleicht waren die Amerikaner gar nicht so ungehobelt und selbstverliebt, dachte Honor eines Tages, vielleicht war sie als Engländerin auch zu voreingenommen.
    So ungestüm, wie sich Comfort Haymaker Zutritt zur Welt verschafft hatte – die nicht enden wollenden Schmerzen, das Blut, das Pressen und Schreien hatten Honor kurzfristig in ein Tier verwandelt –, war es kaum ein Wunder, dass sie auch ein unruhiges Baby war. Comfort hatte flachsblondes Haar und die blauen Augen ihres Vaters, war aber zierlich wie ihre Mutter. Ihr kleiner Magen füllte und leerte sich in kurzen Abständen. Sie weinte, wurde gestillt, schlief eine Stunde, begann wieder zu weinen und wurde wieder gestillt. Honors Tage und Nächte wurden ganz von dem immer gleichen Säuglingsrhythmus bestimmt. Noch nie zuvor

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