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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Hofmitte jagten, während die Hofkatze, den Bauch dicht über dem Boden, auf sie zupirschte. Doch die Streifenhörnchen bemerkten sie rechtzeitig und entwischten ihr. Als die Schildpatt später noch einmal über den Hof kam, folgten ihr drei halbwüchsige Kätzchen. Sie begannen mitten auf dem Hof miteinander herumzutollen, wobei ihnen die alte Katze unbeteiligt zusah. Der Brunnen warf jetzt keinen Schatten mehr, es war Mittag. Honor bemerkte einen Blechbecher, der oben auf dem Brunnenrand stand, dann fielen ihr die Augen zu. Sie musste kurz eingenickt sein, denn als sie die Augen wieder öffnete, war seitlich vom Brunnen schon wieder ein Stück Schatten zu sehen. Sie blinzelte noch einmal. Seltsam, der Becher war verschwunden.
    Eine Henne war aus dem Hühnerhaus entwischt und pickte am Boden. Weil Digger mit aufs Feld gelaufen war, gab es niemanden, der sie vor dem Fuchs beschützte. Honor fragte sich, was sie tun sollte, falls ein Fuchs auf den Hof kam, obwohl das am helllichten Tag eher unwahrscheinlich war. Sie konnte zwar mittlerweile im Krankenzimmer herumlaufen, bezweifelte aber, dass sie es bis auf den Hof hinaus schaffen würde, um das Huhn zu retten, ohne ohnmächtig zu werden.
    Dann betrachtete Honor den Schatten neben dem Brunnen genauer. Der dunkle Fleck spiegelte nicht die Form des Brunnens, sondern sah eher aus wie ein Kartoffelsack. War es eine Fiebertäuschung? Während Honor noch schaute, löste sich ein Arm aus der dunklen Masse und stellte den Becher zurück auf den Brunnenrand. Honor glaubte sogar, das metallische Aufschlagen des Bechers auf dem steinernen Brunnenrand zu hören.
    Honor setzte sich vorsichtig auf und bemühte sich, keinerlei Lärm zu machen. Bei der Vorstellung, dass sie ganz allein auf dem von Wäldern umgebenen Hof war und draußen jemand neben dem Brunnen hockte, zog sich ihr Magen vor Angst zusammen. Am liebsten hätte sie einfach wieder die Augen geschlossen, in der Hoffnung, der Mann würde verschwunden sein, wenn sie sie wieder öffnete. Honor atmete tief durch und versuchte innerlich zur Ruhe zu kommen. Sie rief sich in Erinnerung, dass jeder Mensch etwas von Gott in sich hatte, selbst der Mann, der sich dort draußen auf dem Hof versteckte. Doch als sie aus dem Bett glitt, um sich unters Fenster zu knien, zitterte sie am ganzen Körper.
    Honor hatte gehofft, dass die Sonne den Mann so stark blenden würde, dass er sie nicht sehen konnte, doch als sie zu der dunklen Gestalt hinausschaute, spürte sie, wie ihr Blick erwidert wurde. Der Mann verhielt sich dabei völlig still, sodass das Huhn in seiner Nähe ungerührt weiterpickte. Auch Honor bewegte sich nicht. Sie spürte, wie ihr unterm Nachthemd der Schweiß über den Rücken lief. Während sie weiter schaute, richtete der dunkle Fleck sich auf und nahm die Form einer jungen Frau an. Sie war schwarz, barfuß und trug ein gelbes Kleid. Um die Haare hatte sie einen Stoffstreifen geschlungen, den sie vom Kleidersaum abgerissen hatte. Das Huhn rannte davon, doch die Frau blieb ungerührt stehen und streckte Honor eine Hand entgegen. Die kleine, unscheinbare Geste genügte, um Honors Magen zu beruhigen. Sie sagte: Ich bin auf der Flucht, bitte hilf mir. Honor fühlte sich durch die Geste mit der Frau verbunden. Von Kindheit an hatte man ihr beigebracht, dass Sklaverei falsch war und bekämpft werden musste, aber bislang hatte sie sich nur mit Gedanken und Worten auseinandersetzen müssen. Nun wurde Honor mit einem Mal mit der Wirklichkeit konfrontiert: Sie musste handeln, wusste aber nicht, wie.
    Die schwarze Frau ließ die Hand sinken und blieb neben dem Brunnen stehen. Auf dem Hof schienen plötzlich alle Bewegungen einzufrieren. Das Huhn war nirgends mehr zu sehen. Es regte sich keine Brise, noch nicht einmal die Grillen und Heupferdchen zirpten. Niemals hätte Honor gedacht, dass es in Ohio so still sein könne.
    Langsam, damit ihr nicht schwindelig wurde, richtete sie sich auf und tastete sich an der Wand entlang zur Tür und weiter in die Küche. Als sie am Küchenbüfett vorbeikam, nahm sie den Anschnitt eines Brotlaibs mit. Draußen auf der hinteren Veranda machte sie einen Moment lang zögernd Halt, dann trat sie in den Hof hinaus. Die heiße, strahlend helle Sonne blendete Honor, und sie blieb stehen. Sie hielt sich eine Hand über die Augen und blinzelte, war aber immer noch so geblendet, dass alles vor ihr

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