Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
erzürnt aus dem Zimmer, bevor er die beleidigenden Worte wiederholen konnte, kam jedoch noch einmal zurück, kaum dass er zwei weitere Zeilen geschrieben hatte, und knallte eine Pergamentrolle vor ihm auf den Schreibtisch. Sie trug das Siegel von Cuthbert Tunstall, dem Bischof von London. More brach das Siegel und überflog rasch den Inhalt des Schreibens, während seine Frau das Zimmer ohne ein weiteres Wort verließ.
Der Student John Frith, den Sir Thomas zu befragen wünschte, sei ihnen offensichtlich durch die Lappen gegangen. Alle Nachforschungen seien erfolglos geblieben. Der Bischof vermutete, dass Frith sich seinem ehemaligen Tutor, William Tyndale, auf dem Kontinent angeschlossen hatte. Wenn sie doch nur früher einen Spion auf ihn angesetzt hätten!
Wenn doch nur! Stümper! Thomas warf seine Feder wütend auf den Tisch, sodass sich ein großer Tintenklecks über dem letzten Wort ausbreitete. Er konnte das nicht alles allein schaffen. Das härene Hemd kratzte an der Haut seines Rückens, die von der morgendlichen Geißelung noch immer sehr gereizt war. Er stand vorsichtig auf, ging zum Fenster hinüber und sah auf die Landschaft hinaus. Es wurde langsam Winter. Die Bäume hatten bereits das Laub abgeworfen, und letzte Nacht hatte es Raureif gegeben. Bei Hofe würden schon bald die Weihnachtsfestlichkeiten beginnen. Herrgott, wie er das alles hasste! Vielleicht konnte er sagen, dass er Fieber hatte. Er dachte an Kardinal Wolsey, der vom Hofe verbannt worden war, und fragte sich, ob und wie er mit seinem Exil fertigwurde. Thomas hatte nicht geglaubt, dass Heinrich den Mut hätte, sich einen so mächtigen Mann zum Feind zu machen. Das konnte nur am schlechten Einfluss dieser Boleyn liegen.
Er nahm den Deckel von der dampfenden Platte. Neunaugen.
Neunaugen waren nicht gerade seine Leibspeise.
Er setzte den Deckel wieder auf den Teller mit den geschmorten Aalen und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Er hatte sowieso keine Zeit zum Essen. Es gab für ihn noch so viel zu tun, außerdem kam an diesem Nachmittag auch noch Holbein, um weiter am Porträt des neuen Kanzlers von England zu arbeiten, das ihn im Kreise seiner stolzen Familie zeigte.
Neunaugen standen auch auf dem Tisch des Erzbischofs in York im Norden Englands. Im Gegensatz zu Thomas More hatte Kardinal Wolsey jedoch eine Vorliebe für Aal, vor allem, wenn er ihn mit einem Glas vom besten französischen Wein hinunterspülen konnte. Auch wenn er zugeben musste, dass der Genuss durch die Umgebung, in der er zu speisen gezwungen war, doch ein wenig geschmälert wurde. Seine Gemächer in York waren nicht annähernd so prächtig wie jene, die er in London hatte aufgeben müssen. Aber er gehörte nicht zu den Menschen, die sich in ständigem Selbstmitleid ergingen. Wenigstens war er mit heiler Haut davongekommen. Er mochte zwar seinen Posten als Kanzler von England verloren haben, aber er war noch immer Kardinal, und wenn er geschickt vorging, würde er schon bald in Rom ein neues Zuhause finden. England war für ihn verloren. Aber was war England schon anderes als eine provinzielle kleine Insel mit einem engstirnigen, despotischen Herrscher, der eine Vorliebe für Flittchen hatte? Der Kardinal hatte ein größeres Ziel im Auge.
Während er die kräftige Fischbrühe löffelte, dachte er an Sir Thomas More, dem man, wie ihm von seinen Spitzeln zugetragen worden war, inzwischen den Posten des Kanzlers angeboten hatte. Nun, er wünschte ihm alles Gute, obwohl er bezweifelte, dass Englands brillantester Jurist auch jene Art von Gerissenheit besaß, die für diese Aufgabe erforderlich war. Wenn selbst Kardinal Thomas Wolsey an der großen Angelegenheit des Königs gescheitert war, so scheiterte gewiss auch Sir Thomas. Es wäre interessant zu beobachten, wie sich das Ganze entwickelte, aber wenn sein Plan funktionierte, würde er bis dahin längst nicht mehr in England sein.
Den Neunaugen folgten süße Apfeltörtchen mit Sahne und zum Abschluss ein milder Weichkäse. Nachdem er den ersten köstlichen Bissen noch seine volle Aufmerksamkeit gewidmet hatte, begann er schon bald geistesabwesend weiterzukauen. Dann rief er nach Schreibzeug und einem Boten. Laut rülpsend schob er den halb aufgegessenen Käse zur Seite, wischte sich den Mund am Zipfel des Tischtuchs ab und nahm die Gänsefeder zur Hand.
An Seine Heiligkeit, Papst Clemens VII.
Von Gottes treuem Diener in England, Kardinal Wolsey
Bezüglich der ernsten Bedrohung der Heiligen Römisch-
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