Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
und sie empfand dabei etwas, das einem Gefühl von Eifersucht sehr nahekam – was sie wiederum selbst überraschte. Warum sollte es ihr etwas ausmachen, dass der König mit ihrer Schwester geschlafen hatte, es sei denn, sie begann für ihren prächtigen Goliath tiefere Gefühle zu entwickeln, als ihr lieb war?
Die letzten zwanzig Minuten hatte sie mit dem Versuch verbracht, ihrer Schwester das Wesen ihrer Beziehung zum König zu erklären. Sie wollte ihr begreiflich machen, dass sie, Anne, einen vollkommen anderen Weg gewählt hatte als sie. Mary verstand jedoch absolut nicht, was sie meinte.
»Willst du damit sagen, dass du noch nicht mit ihm geschlafen hast?«, gluckste sie.
»Ich lasse mich nicht so leicht ins Bett locken wie du, liebste Schwester.«
Anstatt ihr zu antworten, beugte Mary sich nach unten und strich das Kleid der Puppe glatt.
»Du sollst doch das Gewand der Königin nicht zerknittern, Schätzchen. Dein Vater hat die Königin und auch die Prinzessin sehr gern.« Sie lächelte Anne unschuldig an. »William hat ihr die Puppen geschenkt. Er hat sie vom Zeremonienmeister der Königin erhalten. Als Geschenk für seine … Tochter.«
Anne unterdrückte den Drang, sie zu ohrfeigen. Was war, wenn Heinrich sie besuchte, während ihre Schwester noch hier war? Würde der Anblick seines Kindes, das zu ihren Füßen spielte, sein Interesse an ihr wieder aufleben lassen? Sie hatten das peinliche Thema seiner Beziehung zu Mary Boleyn nie angesprochen. Sie konnte dem König nicht vorhalten, dass er mit ihrer Schwester geschlafen hatte. Und der König war viel zu ritterlich, um das Thema von sich aus anzuschneiden.
»Ich bin mir sicher, dass Lord Carey seine Kinder schrecklich vermisst«, sagte Anne nicht ohne Hintergedanken. »Wahrscheinlich könnt ihr inzwischen gefahrlos nach Hause zurückkehren. Ihr seid jetzt immerhin schon zwei Wochen hier, nicht wahr? Beunruhigt es dich nicht, dass dein Mann im Sterben liegen könnte und du nicht da bist, um ihm Trost zu spenden?«
Mary zuckte mit den Schultern.
»Nun, er hat ja noch die Ländereien, die ihm der König verliehen hat. Die sollten ihm Trost genug sein.«
Ländereien, die du im Bett verdient hast , wollte Anne gerade sagen. Sie brach jedoch ab, als ihr Blick auf einen einsamen Reiter fiel, der sich dem Tor näherte. Er trug nicht die Livree der Tudors, sondern eine einfache, braune Soutane. Anne wandte sich vom Fenster ab. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Es war jetzt zwei Wochen her, dass sie zum letzten Mal Kunde vom König erhalten hatte. Es war jener Brief gewesen, in dem er ihr ein ganz besonderes Geschenk versprochen hatte. Aber wenn sie es recht betrachtete, war es ihr, falls er ihr das Geschenk persönlich überbringen wollte, lieber, wenn er erst kommen würde, wenn Mary wieder abgereist war.
Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach sie in ihren Gedanken.
»Wenn das ein Diener mit einer Erfrischung ist, dann hoffe ich, dass kein Hauch Essig dran ist. Ich habe den Gestank von Essig gründlich satt.« Mary rümpfte die Nase. »Man wird ihn hier überhaupt nicht mehr los.«
»Das ist doch nicht der Rede wert, solange er die Pestilenz fernhält. Es ist übrigens der König, der darauf besteht, dass wir hier in Hever Essig verwenden.«
»Nun, der König war schon immer ein Feigling, wenn es um Krankheiten geht. Du glaubst wirklich, dass er dich hier besuchen wird? Ich an deiner Stelle würde jedenfalls nicht mehr allzu lange an diesem Fenster stehen und warten. Er hat sich wahrscheinlich mit Brandon und Neville in irgendeiner Hütte im Wald verkrochen«, sagte sie, als Anne die Tür öffnete.
»Lady Anne«, sagte ein Diener, »da ist ein Priester, der Euch sprechen will.«
»Ein Priester!«
»Er sagt, er sei ein Priester aus der Honey Lane. Ich soll Euch sagen, dass der König ihn als Geschenk für Euch geschickt hat. Er soll Euch in diesen schwierigen Zeiten geistigen Beistand leisten und für Euer Wohlergehen beten.«
Hinter sich hörte Anne ihre Schwester kichern.
»Wenn man bedenkt, dass ich nur ein paar armselige Stück Land und ein paar schöne Kleider bekommen habe.«
»Sag dem Pfarrer aus der Honey Lane, dass er in der Kapelle auf mich warten soll. Ich werde ihn sofort empfangen«, entgegnete Anne, wobei sie versuchte, ihre Schwester zu ignorieren. »Sag ihm auch, ich sei gerührt, dass der König so sehr um mein körperliches und geistiges Wohl besorgt ist.«
»Ich wäre nicht allzu gerührt,
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