Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
liebe Schwester.« Mary setzte sich auf den breiten Fensterplatz und starrte in den Garten hinaus. »Und wenn ich du wäre, wäre ich vorsichtig, wem und was ich beichte.« Dann sah sie Anne wieder an. Aus ihrem Gesicht war jetzt jede Spur von Spott verschwunden. »Immerhin bist du meine Schwester. Ich fände es schrecklich, wenn du Schande oder Schlimmeres über dich … und über uns alle bringst.«
Anne war jedoch nicht in der Stimmung für schwesterliche Ratschläge.
»Offensichtlich verwechselst du mein Sündenregister mit deinem. Ich habe schließlich nicht mit dem halben französischen Hof ge … nicht mit allen so einen vertrauten Umgang gepflegt wie du. Nun, ich denke, ein Flirt ist noch keine Sünde. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich beichte meine Sünden nur vor Gott, wie dieser Priester sehr wohl wissen dürfte. Auch der König kennt meine Einstellung. Er hat diesen Pfarrer auf meine Bitte hin zu mir geschickt. Aber du hast solche Dinge doch nie besonders ernst genommen, oder?« Die letzte Bemerkung machte sie über die Schulter gewandt, als sie im Begriff war, das Zimmer zu verlassen. Sie blickte nur kurz zurück, um zu sehen, ob der Pfeil auch getroffen hatte.
Mary runzelte die Stirn, ihr Blick war noch immer ruhig.
»Vielleicht nimmst du diese Dinge allzu ernst«, sagte sie. »Eine junge Frau kann in den tiefen Wassern, in die du dich vorgewagt hast, schnell ertrinken. Sei vorsichtig, Schwester. Sei sehr vorsichtig.«
Aber Anne war nicht beunruhigt. Der verhasste Wolsey konnte ihr nicht mehr gefährlich werden, und sie war sich so gut wie sicher, dass Thomas Cromwell auf ihrer Seite stand. Sie würde sich mit reformorientierten Priestern wie diesem Pfarrer aus der Honey Lane und mit den Gelehrten aus dem Fischkeller umgeben, denen man so übel mitgespielt hatte. Wenn sie sich bei Hofe erst einmal sicher fühlen konnten, würden sie tief in ihrer Schuld stehen. Außerdem waren solche Freunde durchaus geeignet, den Keil zwischen Heinrich und seiner katholischen Königin noch tiefer zu treiben. Nein. Anne war nicht beunruhigt. Warum auch? Schließlich hatte der König von England ihr versprochen, sie zu seiner Königin zu machen.
Mitte Mai war das Hochwasser der Schelde endlich zurückgegangen, und die Kaufleute konnten wieder ihre Geschäfte aufnehmen. Und Kate war endlich schwanger. Da sie sich ganz sicher sein wollte, hatte sie John bisher noch nichts gesagt.
»Man kann es Euch ansehen. Ihr tragt ein Kind unter dem Herzen.« Mistress Poyntz war sich absolut sicher, zumal Kate ihr von ihrer morgendlichen Übelkeit berichtete und dass sie gestern Abend ein heftiges Verlangen nach Gänseleberpastete verspürt hatte, obwohl sie eigentlich keine Gänseleberpastete mochte. Während sie erzählte, nahm sie sich noch einmal eine ordentliche Portion von der herzhaften Fischsuppe, die in dem großen Kessel auf dem Herd in der Küche vor sich hin blubberte.
»Es tut mir leid, dass ich so gefräßig bin. Wenn ich so weitermache, werde ich noch genauso fett wie die Gans, von der die Leber stammte«, sagte sie, während sie ihr Brot in die sahnige Suppe tunkte. »Diese Brühe ist wirklich köstlich!«
Mistress Poyntz, die gerade ein Huhn rupfte, lachte.
»Es ist noch jede Menge da.« Sie schob den Berg von Federn mit den Füßen vorsichtig in einen Sack, dann senkte sie die Stimme, weil die Tür zum angrenzenden Söller offen stand. »Möglicherweise müsst Ihr ja für zwei essen.«
Es war jedoch gar nicht nötig, leise zu sprechen. John war wie üblich in eine angeregte Unterhaltung mit Kaplan Rogers vertieft, bei der es um die Eucharistie ging. Sie waren sich einig, dass die römische Doktrin ihrer Meinung nach vollkommen falsch war. Johns Stimme drang noch lauter und aufgeregter als gewöhnlich durch die geöffnete Tür herein.
»Die Realpräsenz Christi zu vertreten ist purer Aberglaube. Es ist doch nicht der Bäcker, der das Wunder der Messe bewirkt, es ist Gott.« Sie hörte, wie er dabei mit der Faust auf den Tisch schlug, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Das Wunder besteht in der Veränderung, die im Gläubigen selbst stattfindet, und nicht in einer Veränderung der physischen Eigenschaften von Brot und Wein.«
Rogers erwiderte:
»Ich stimme in den meisten Dingen mit Luther überein. Er hat nach meiner Auffassung absolut recht, dass die Theologie durch den Glauben und nicht durch Taten gerechtfertigt wird. Aber was seine Verteidigung der Realpräsenz Christi in der
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