Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
holte tief Luft.
»Dann stimmt Ihr mit Master Tyndale in größerem Maße überein, als Euch vielleicht bewusst ist. Das nämlich ist genau das, was in diesem Buch steht. Er spricht von einem Königtum von Gottes Gnaden, das über allem steht.«
Er zog überrascht eine Augenbraue nach oben.
»Auch über dem Papst?«
»Lest es selbst, dann werdet Ihr sehen. Der König ist nur und ausschließlich Gott allein Rechenschaft schuldig.«
Er betrachtete das Buch und ließ es in seinem üppigen seidenen Ärmel verschwinden.
»Dann sollte ich es tatsächlich lesen«, sagte er.
Hoch oben auf einer Eibe begannen genau in diesem Moment zwei Krähen heiser zu zetern. Er lachte. »Mir scheint, die Schwarzröcke äußern bereits ihren Unmut.« Dann fügte er hinzu: »Und jetzt sehen wir uns meinen Wandteppich an.« Er nahm ihre Hand.
Als sie den Obstgarten verließen, stieß der Arbeiter, der dicht neben ihnen gestanden hatte, einen erleichterten Seufzer aus und stützte sich auf seine Schaufel.
Kardinal Wolsey stand allein in der Mitte des großen Saales und betrachtete die prächtige Stichbalkendecke mit der herrlich ausgeführten Bemalung in Blau, Rot und Gold. Eine tiefe Traurigkeit legte sich auf seine in Scharlachrot gekleideten Schultern. Hampton Court, der prächtigste Palast in ganz England – und er, Wolsey, war im Begriff, ihn zu verschenken. Wie dumm es doch von ihm gewesen war, den König mit diesem Palast zu übertrumpfen, auch wenn er weiß Gott keine Mühe gescheut hatte, allen Neidgefühlen seitens des Königs dadurch vorzubeugen, dass er von Hampton Court so sprach, als wäre es einer von Heinrichs vielen Palästen.
»Aus Eurem Palast in Hampton«, hatte er all seine Schreiben an Heinrich stets unterzeichnet, während er dort weilte. Vom heutigen Abend an aber würde Hampton Court dem König urkundlich gehören. In einem letzten Versuch, wenn auch nicht sein Amt, so doch seinen Kopf zu retten, würde Kardinal Wolsey dem König seinen prächtigen Palast an der Themse überschreiben, in dem er so manchen römischen Prälaten und ausländischen Prinzen bewirtet und indoktriniert hatte. Eine ebenso großzügige wie sinnlose Geste, sinnierte er. Schließlich konnte sich der König sowieso jeden Palast, den er begehrte, mit einem einzigen Federstrich zu eigen machen. Indem er ihn dem König freiwillig übereignete, hoffte Wolsey, sowohl diesen Federstrich zu vermeiden als auch einen Federstrich unter einer Urkunde ganz anderer Art.
Er fuhr mit der Hand über die geschnitzte Wandvertäfelung, die wie die Falten eines Leinenstoffs aussah. Dieselbe Vertäfelung zierte auch seine Privatgemächer. Durch die Bleiglasfenster seines Arbeitszimmers hatte er einen schönen Blick auf die Gärten und den gewundenen Fluss dahinter. Für den Sohn eines einfachen Fleischers war dieser Palast die Erfüllung eines Traumes. Jetzt aber hatte er alles verloren: Hampton Court Palace, das Siegel des Lordkanzlers … und er wollte gar nicht daran denken, was er sonst noch alles verlieren könnte. Und weshalb das Ganze? Wegen einer Frau – die nach den Maßstäben des Hofes nicht einmal schön war. Es war, als hätte sie den König verhext, sodass dieser von nichts anderem mehr sprach als davon, sie heiraten zu wollen. Für das, was er zwischen ihren Beinen finden mochte, war er bereit, den Zorn des Papstes und vielleicht sogar das Höllenfeuer zu riskieren. Unter den Anhängern der Königin war immer öfter das Wort Hexerei gefallen. Wolsey vermutete jedoch, dass, welche dunklen Künste die junge Boleyn auch ausübte, diese mehr mit den Gaben Evas als mit denen des Teufels zu tun hatten.
Seine Spione hatten ihm berichtet, dass sie heute wieder einmal mit dem König im Labyrinth spazieren ging. Möglicherweise saß sie an diesem Abend sogar an der Tafel des Königs. Heinrich zeigte sich jetzt in aller Öffentlichkeit mit ihr – während seine Königin weinte und ihren Neffen Karl, den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, immer wieder bat, ihren Ehemann dazu zu bewegen, sich wieder ihr zuzuwenden. Zur Zeit herrschte eine Art Pattsituation, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das ändern würde. Wolsey konnte das an dem leidenschaftlichen Verlangen in Heinrichs Blick sehen, wann immer er Anne ansah, genauso wie an dem zuversichtlichen Ausdruck in ihren dunklen Augen. Wenn sie nur lange genug durchhielt, würde sie tatsächlich eines Tages Königin werden. Und Heinrich hätte sich dann einem Papst widersetzt. An
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