Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
streckte die Arme aus. »Sie mag Euch. Normalerweise ist sie bei Fremden sehr zurückhaltend.«
»Ihr seid entweder sehr mutig – oder sehr dumm«, sagte Kate, während sie das Kind unbewusst noch ein wenig fester an sich drückte.
»Ach, das war doch nur ein kleiner Junge. Ich habe ihm eine Ohrfeige gegeben und ihn mit dieser Lektion zu seiner Mutter nach Hause geschickt. Wahrscheinlich hatte er Hunger, aber ich kann es mir einfach nicht leisten, ihn durchzufüttern. Mein Mann wäre nicht gerade begeistert, wenn ich mit leeren Händen nach Hause käme. Er arbeitet als Bootsführer in Southwark. Wir brauchen jeden Penny für uns drei. Viele Leute auf dieser Seite des Flusses wollen seine Dienste nicht in Anspruch nehmen, nur weil er Ausländer ist.« Die Arme noch immer ausgestreckt, trat die Frau einen Schritt näher. »Ihr könnt sie mir jetzt geben. Ich bin Euch schon lange genug zur Last gefallen.«
Kate überließ ihr das kleine Mädchen nur widerwillig. »Sie war mir keine Last«, sagte sie leise.
Winifred nahm den Säugling in die Arme, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
»Du bist ein braves Mädchen gewesen, aber jetzt müssen wir nach Hause. Dein Papa wartet schon auf sein Abendessen«, sagte sie. Sie verließ das Geschäft fast genauso schnell, wie sie es betreten hatte, wobei sie Kate über ihre Schulter gewandt noch zurief: »Ich bin Euch wirklich sehr zu Dank verpflichtet.«
»Jederzeit wieder«, rief Kate ihr hinterher. »Ich mache das doch gerne. Ehrlich.«
Sie blieb einen Moment in der Tür stehen, ohne die kalte Luft zu spüren. Ihre Arme erinnerten sich noch an das Gewicht des Kindes. Der Laternenanzünder war bereits unterwegs, und der Nachtwächter hatte mit seiner Runde begonnen. Es würde schon bald dunkel sein, eine lange Nacht lag vor ihr. Sie würde ihre eigene Lampe anzünden, um noch ein wenig in einer erst vor kurzem erschienenen Übersetzung von Dante zu lesen, die sie und ihr Bruder zum Verkauf anboten. Natürlich musste sie sehr darauf achten, die Seiten nicht zu beschmutzen. Dann würde sie ein wenig altes Brot mit Käse essen, dazu vielleicht ein paar Trockenfrüchte. Seit ihr Bruder vor zwei Jahren geheiratet hatte, kochte sie nur noch selten etwas, froh darüber, wenigstens von dieser Aufgabe befreit zu sein. Schließlich würde sie das Feuer im Geschäft mit Kohlestaub abdecken und die Wendeltreppe hinaufsteigen, wo ihr schmales Bett stand, das gerade Platz für eine Person bot.
Zuerst musste sie jedoch noch die Glasscherben zusammenkehren. Sie nahm wieder den Besen zur Hand, stützte sich jedoch nur darauf, während sie sich irritiert fragte, was sich gerade verändert hatte; woher kam dieses plötzliche Gefühl der Einsamkeit, diese Unzufriedenheit? Sie musste an die armen Frauen denken, die im Schatten der St.-Paul’s-Kathedrale in den Hauseingängen schliefen. Du solltest Gott danken, Kate Gough, schalt sie sich. Du hast ein Dach über dem Kopf, einen Kamin zum Wärmen – und du hast Bücher. Wenn du unbedingt ein Kind in den Armen halten willst, dann ist da ja immer noch der kleine Pipkin – und den kannst du jederzeit wieder abgeben. Wie solltest du noch Zeit für deine Bücher finden, wenn du dich um eine Horde schreiender Kinder und einen anspruchsvollen Ehemann kümmern müsstest? Aber sie empfand keine Dankbarkeit.
Die junge Frau, die sich Winifred nannte, war inzwischen wohl schon zu Hause. Sie und ihr Ehemann würden gemeinsam ihr Abendbrot essen und darüber lachen, wenn sie erzählte, wie sie den Dieb gestellt hatte. Gut möglich, dass sie ihrem Franzosen sogar von der Buchhändlerin erzählte, die in der Zwischenzeit auf ihr Kind aufgepasst hatte.
War sie nett? , fragte er vielleicht. Durchaus. Aber sie hatte etwas Trauriges an sich. Es kam mir fast so vor, als wolle sie die kleine Madeline behalten. Sie hat mir irgendwie leidgetan.
Die kleine Madeline. Kate erinnerte sich an den Geruch des Säuglings, an die kleine Hand, die Kates Finger gepackt hatte, als wäre er eine Rettungsleine.
Schluss damit, Kate!
Sie schwang den Besen wesentlich energischer, als sie es beabsichtigt hatte. Eine Glasscherbe schlitterte klirrend über den Boden. Sie erschrak. Unwillkürlich fragte sie sich, ob das rotäugige Ungeziefer sie nachts, wenn sie ihre Kerze gelöscht hatte, aus einer dunklen Ecke heraus beobachtete.
Während sie versuchte, die Tränen der Enttäuschung wegzublinzeln, schoss ihr zum zweiten Mal an diesem Tag derselbe Gedanke durch den Kopf: Wenn
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