Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
den Blick ab und sah zum Fenster hinaus, wo der Himmel in der Dämmerung mittlerweile ein tiefes Purpur angenommen hatte.
»Es geht uns gut. Pipkin gefällt es hier. Er mag die Schafe. Er nennt sie ›Wollies‹.« Sie tätschelte das Kind auf ihrem Schoß, das nach der ersten Begrüßung Kate gegenüber plötzlich fremdelte, so als wäre es durch ihre Anwesenheit verwirrt. Der Kleine schmiegte sich fester an sie und vergrub sein Gesicht am Busen seiner Mutter. Er sah Kate nicht mehr an, bis er schließlich eingeschlafen war. »John geht es …« Sie brach ab, als sie plötzlich Johns Stimme hörte und Marys Mutter sie im selben Moment zum Abendessen rief. »Nun, du wirst es ja gleich selbst sehen.« Sie streckte die Hand aus und berührte Kate am Ärmel. »Bitte, Kate, sag nichts von … du weißt schon, was ich meine … meine Eltern verstehen das nicht, und John fängt gerade erst an zu …«
»Maaaarry!« Wieder erklang die beharrliche Stimme der Mutter.
Mary verdrehte frustriert die Augen und legte das schlafende Kind auf das Bett. Kates Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie den Kleinen vermisst hatte. Wenn sie gemeinsam mit John Frith das Land verließ, würde sie ihn vielleicht nie wiedersehen. Sie drückte ihre Lippen sanft auf die Stirn des Kindes und folgte Mary in den einen großen Raum, der sowohl Esszimmer als auch Wohnzimmer war.
John war gerade dabei, neben dem Kamin Holz aufzuschichten. Sie rief seinen Namen.
Er stand auf und sah sie an. Dabei hielt er noch immer ein Holzscheit in der linken Hand. Mit der rechten strich er sich seine blonden Haare zurück, sie waren länger und dünner, als sie sie in Erinnerung hatte. Es war eine vertraute Geste, die er oft machte, wenn er verwirrt war. Sie musste beim Anblick der tiefen Linien um seine Augen und der strengen Falten, die sich auf seiner Stirn eingegraben hatten und über die Narbe auf seiner rechten Schläfe verliefen, die Tränen unterdrücken. Wie konnte ein Mensch in so kurzer Zeit so altern? Sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln. Er durfte ihr Mitleid nicht sehen.
»Kate?«, fragte er erstaunt, als empfände er, genau wie Pipkin, ihre Gegenwart in dieser Umgebung als völlig widersinnig. Einen Moment lang hatte sie das entsetzliche Gefühl, wieder vor dem Fleet-Gefängnis zu stehen. Allein von der Erinnerung wurde ihr schwindelig. Verglichen damit war der Ort hier das reinste Paradies.
»Hallo, John.«
»Kate!« Das Holzscheit polterte zu Boden, als er mit einem einzigen großen Schritt auf sie zukam. Er schloss sie mit einer Kraft in die Arme, die sie zugleich überraschte und erfreute. »Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht, weil du in London allein zurechtkommen musst. Geht es dir gut?« Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich und fügte, ohne ihre Antwort abzuwarten, hinzu: »Du siehst jedenfalls sehr gut aus. Es hieß, wir hätten Besuch. Ich habe die Kutsche gesehen. Da dachte ich, es sei irgendein feiner Pinkel, dessen Pferd ein Eisen verloren hätte oder so. Wie kommst du zu …«
»Eine Freundin hat sie mir geliehen. Nur für diesen Besuch hier bei euch.«
»Das muss ja eine edle Freundin sein. Und ich habe mir Gedanken darüber gemacht, ob meine kleine Schwester für sich selbst sorgen kann.«
Der neckende Unterton erinnerte sie an ihren Bruder, so wie er einst gewesen war, bevor diese schrecklichen Dinge geschehen waren.
»Kommt zu Tisch, bevor das Essen kalt wird«, sagte Marys Mutter und begann den Eintopf, der nach Salbei und Zwiebeln roch, auf die Teller zu schöpfen. »Vater, holst du bitte für unseren Gast den Stuhl aus unserem Schlafzimmer.« Der alte Mann legte gehorsam den Weidenzweig weg, auf dem er herumgekaut hatte.
»Wo ist Pipkin?«, fragte John.
»Er schläft, und hoffentlich etwas länger, damit wir in Ruhe essen können«, sagte Mary leise, als sie sich an den Tisch setzte.
»Bitte, nehmt doch Platz, Mistress.« Marys Vater stand hinter dem Stuhl, den er hereingebracht hatte, und wartete, dass sie sich setzte, so als wäre sie die Königin persönlich und nicht die Schwester des Mannes, den er in seinem Haus anscheinend nur mit Widerwillen duldete. Erstaunlich, was so ein Adelswappen doch für eine Wirkung hat, dachte sie.
»Besten Dank, aber ich möchte wirklich nicht lange bleiben. Der Kutscher wird sich wahrscheinlich schon fragen …«
»Es ist so viel da, dass es auch für den Kutscher reicht«, sagte Marys Mutter, als sie einen weiteren Teller mit
Weitere Kostenlose Bücher