Die englische Ketzerin: Roman (German Edition)
Versuch, sein Gesicht zu wahren. Am Hof ging das Gerücht, dass Heinrich ihn nicht mehr lange dulden werde. Wolsey war zu mächtig geworden, und er hatte in der großen Sache des Königs versagt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man den Lordkanzler auffordern würde, das Siegel abzugeben. Darüber hinaus wurde gesagt, dass das Parlament Wolsey sogar vor Gericht stellen wollte, weil er als päpstlicher Gesandter das Statute of Praemunire verletzt hatte. Aber Wolsey war nicht nur aus eigenem Ehrgeiz päpstlicher Gesandter geworden – der Kardinal strebte zweifellos danach, eines Tages Papst zu werden –, sondern auch, weil Heinrich ihn persönlich darum gebeten hatte. Manchmal, in seinen dunkelsten Stunden, erschauderte Thomas geradezu, wenn er daran dachte, in was für ein Dilemma sich Wolsey verstrickt hatte.
»Achtet sehr darauf, Euch die Gunst des Königs nicht zu verscherzen«, hatte der alte Mann gemurmelt. »Sie geht leichter verloren als die Tugend einer Frau.«
Ein Diener mit einem Kohleneimer betrat auf Zehenspitzen Thomas’ Arbeitszimmer und bückte sich, um das Feuer im Kamingitter anzufachen.
»Barnabas, geh zu Mistress Roper«, sagte Thomas zu dem Diener, dem ihm den Rücken zuwandte. »Sag ihr, dass ihr Vater sie in einer Angelegenheit von höchster Dringlichkeit zu sprechen wünscht.«
Margaret Roper blickte nicht auf, als der Diener ihres Vaters an der Tür erschien. Sie packte die Kisten aus, die gerade frisch vom Drucker gekommen waren. Endlich. Die Bücher! Das Herz schlug in ihrer Brust so heftig, dass sie das Gefühl hatte, es würde gleich zerspringen. Ihre Hände strichen zärtlich über die ledernen Einbände, die sie einiges gekostet hatten. Um sie bezahlen zu können, musste sie in diesem Jahr auf einen neuen Mantel und eine neue Haube verzichten. Aber das ist die Sache wert, dachte sie, als sie eines der Bücher aufschlug und die Buchstaben auf der Titelseite mit dem Finger nachfuhr: » Abhandlung über das Vaterunser von Desiderius Erasmus, ins Englische übersetzt von Margaret Roper.« Wie sich ihr Vater freuen würde, wenn er das sah.
»Was ist, Barnabas?«, fragte sie, ohne aufzublicken.
»Euer Vater wünscht Euch zu sehen, Mistress.«
»Sag ihm, dass ich ihm später meine Aufwartung machen werde.« Vielleicht hätte ich nicht gleich so viele Exemplare drucken lassen sollen, dachte sie. Aber vielleicht verkaufte ja das Mädchen in dem Buchladen in der Paternoster Row einige für sie. Wenn das Geschäft wieder eröffnet war. Ihre Regale waren ziemlich leer gewesen. Möglicherweise war sie sogar froh darüber, Ware in Kommission nehmen zu können.
Barnabas hüstelte diskret.
»Sir Thomas sagte, es sei dringend.«
»Also gut, ich komme«, sagte sie, ein Buch an ihre Brust drückend. Plötzlich war sie sehr begierig darauf, sein Gesicht zu sehen. Was auch immer so »dringend« sein mochte, das hier erfreute ihn gewiss sehr.
Als sie ein paar Minuten später das Arbeitszimmer ihres Vaters betrat, fand sie ihn jedoch in ungewöhnlich gereizter Stimmung vor. So böse hatte er sie noch nie angesehen.
»Worum geht es, Vater?«
Er hielt ein Buch in die Höhe. Mit großer Bestürzung erkannte sie es. »Oh«, sagte sie. »Du kennst es also schon. Ich hatte gehofft, dich überraschen zu können …«
»Das ist dir auf bewundernswerte Weise auch gelungen«, erwiderte er trocken. »Ich brauche wohl kaum hinzufügen, dass es eine höchst unangenehme Überraschung war.«
»Ich verstehe nicht …«
Er knallte das Buch auf seinen Schreibtisch, sodass die Tintenfässchen und die Schreibfedern, die dort in Reih und Glied standen, wild durcheinanderhüpften. Eine Ohrfeige hätte sie nicht schlimmer treffen können.
»Der Generalvikar hat es mir gegeben. Du hast das Gesetz gebrochen, Tochter.«
»Das Gesetz gebrochen! Ich? Aber wie …«
Er schlug das Buch auf der Titelseite auf und hielt es ihr so dicht vors Gesicht, dass sie erst ein Stück zurückweichen musste, um es lesen zu können.
»Sieh her. Fällt dir irgendetwas auf? Was stimmt hier nicht?«
Sie versuchte sich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Was sollte da verkehrt sein? Sie hatte dem Autor die gebührende Anerkennung gezollt. Sie hatte den Titel des Werkes richtig geschrieben. Sie schüttelte den Kopf, während sie gegen Tränen der Enttäuschung ankämpfte.
Er nahm ein Buch aus dem Regal und schlug es auch auf der Titelseite auf, klopfte mit dem Fingerknöchel darauf. »Hier, genau hier. An dieser Stelle fehlt bei
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