Die englische Rebellin: Historischer Roman (German Edition)
ist?«
»Mit dem Rest deiner Familie in London«, entgegnete sein Onkel und fügte dann hinzu, als sei ihm der Gedanke im Nachhinein gekommen: »Sie sind alle in Sicherheit.«
»Hast du sie gesehen?«
»Nein, aber ich weiß, dass sie sicher sind. Vertrau mir.«
Roger wollte nur bei ihnen sein. Es war schön und gut, gesagt zu bekommen, er solle ein tapferer Ritter sein, und seine lebhafte Fantasie und angeborene Unerschrockenheit hatten ihn bislang aufrecht gehalten, aber jetzt war er fast am Ende seiner Kräfte. Er sehnte sich nach einem weichen, liebevollen Arm. Entschlossen hob er den Kopf, weigerte sich, seinen Tränen freien Lauf zu lassen, und legte seinen ganzen Stolz in den Blick, mit dem er seinen Onkel bedachte.
Longespees Herz machte einen Satz, weil der Junge denselben abschätzenden Blick wie sein Großvater hatte, der große William Marshal. Der Knappe kam mit den verlangten Kleidungsstücken zurück, und Longespee sah zu, wie Roger seine halb geleerte Suppenschale fortschob und seine nassen Kleidungsstücke auszog. Die Sachen klebten an seinem Körper, und er zitterte so stark, dass er nicht recht vorankam, aber Longespee bemerkte den Stolz und die Entschlossenheit seiner Bemühungen und nahm beides wohlwollend zur Kenntnis. Er gab dem Knappen einen Wink. »Ein Edelmann sollte immer eine Hilfe beim Ankleiden haben«, bemerkte er. »Das schickt sich so.«
Roger warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und versuchte festzustellen, ob er bemuttert werden sollte, nickte dann aber und gestattete dem jungen Mann, ihm beim Anlegen eines sauberen Hemdes, einer Tunika und einer Hose behilflich zu sein. Die Sachen waren ihm viel zu groß, aber warm und trocken und würden vorerst reichen. Der Anblick des schmalen, blassen Körpers seines Neffen versetzte Longespee einen Stich. Ungeachtet der Differenzen zwischen ihm und Hugh war das Kind mit ihm verwandt, ein verletzlicher kleiner Junge. Und in der letzten Zeit waren zu viele verletzliche kleine Jungen gestorben. Während er zusah, wie Roger sich wieder ans Feuer setzte und seine Suppenschale leerte, trank er einen Becher Wein und dachte über seinen neuen Schutzbefohlenen nach. Der Junge hatte ausgezeichnete Manieren und Charme. Sosehr es ihm auch widerstrebte, Longespee musste zugeben, dass Hugh bislang mit ihm gute Arbeit geleistet hatte.
»De Breauté hat dich für den Rest der Reise zum König meiner Obhut überantwortet«, sagte er, als Roger seine Schale abstellte. »Danach wirst du zu deinen Vettern geschickt, bei denen du leben wirst, bis du wieder zu deiner Familie zurückkehren kannst.«
Ein Hoffnungsschimmer glomm in Rogers Augen auf.
»Zu Ranulf und Marie?«
Longespee schüttelte den Kopf.
»Nein, zu meinen Kindern. Mein Sohn William ist fünf Jahre alt, und er hat einen Bruder in Hugos Alter.« Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild von Hughs hellhaarigem zweitem Sohn und dem Zwischenfall, der zu ihrer Entfremdung geführt hatte. Er hielt das Ganze immer noch für lächerlich. Niemals hätte er seinem Neffen etwas zuleide getan. Ein Spiel – es war nicht mehr als ein Spiel gewesen. Er wusste, wann er aufhören musste … im Gegensatz zu John. Seine Züge verhärteten sich.
Die alten Brücken existierten noch, aber sie waren verrottet, und wenn er eine Zukunft haben wollte, musste er sie abreißen und neue bauen.
Rogers Kopf fiel langsam nach vorne. Longespee wies den Knappen an, ihm eine Pritsche in seiner eigenen Kammer herzurichten und einen heißen Stein unter die Decken zu legen.
Roger blinzelte seinen Onkel an wie eine kleine Eule.
»Spielt dein Sohn gerne Ritter?«
Longespee lächelte.
»Das ist sein Lieblingsspiel«, erwiderte er und empfand plötzlich eine tiefe Traurigkeit, weil er seine Kinder so selten gesehen hatte, dass er gar nicht wusste, was William gerne spielte.
Ela hob den Blick von dem Altartuch, an dem sie arbeitete, sah aus dem Fenster und beobachtete die im Hof spielenden Kinder. Sie hatten Boote aus Rinde und Stroh gebastelt, die sie im Pferdewassertrog schwimmen ließen. Es war ein warmer Frühlingstag, und die Sonne brannte heiß, da, wo es windstill war. Kaum zu glauben, dass vor einer Woche ein heftiger Sturm über die Hügel gefegt war, eines der Nebengebäude im Burghof zerstört, etliche Eichenholzschindeln vom Stalldach gefegt und darin große Löcher hinterlassen hatte. Derselbe Sturm hatte die englische Flotte auseinandergetrieben, die die Küste vor einer französischen Invasion
Weitere Kostenlose Bücher