Die Enklave
Eine Frau im Waschbereich mit aufgeschlitzten Pulsadern? Was sollte es sonst gewesen sein? Es wurde spekuliert, dass sie vielleicht herumgeschnüffelt hatte und in Schwierigkeiten geraten war. Oder ohne Erlaubnis gezeugt hatte. Darauf stand Verbannung.
Auf fast alles stand Verbannung. Als Balg hatte ich das Ausmaß gar nicht begriffen. Ich wagte es nicht, meine Gedanken oder Ängste auszusprechen. Die Sicherheit der Enklave begann sich wie ein Gefängnis anzufühlen. Für alle ging das Leben weiter wie gewohnt, nur Bleich ließ sich seine Trauer anmerken. Er sprach nicht mehr mit mir, außer wir waren zusammen auf Patrouille, als hätte ich etwas mit Banners Tod zu tun. Und das schmerzte mich mehr, als ich zugeben wollte.
Nach der Namensgebungszeremonie kam Zwirn zu mir. »Danke, dass du dich um die Geschenke gekümmert hast.«
Mittlerweile war so viel geschehen, dass ich den eigentlichen Grund für diesen Gefallen beinahe vergessen hatte:
Ich wollte herausfinden, was sie mit den Tunnelbewohnern gemacht hatten. Doch jetzt war ich nicht mehr sicher, ob ich das noch wollte. Die Wahrheit könnte zur Last werden.
Aber nachdem er schon mal da war, konnte ich es ebenso gut versuchen. »Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte.«
Ich ging neben ihm her, während er sprach und seinem Ärger darüber Luft machte, wie anstrengend es war, für Dreifuß zu arbeiten. Soweit ich wusste, hatte Zwirn keine Freunde und deshalb vielleicht auch niemanden, mit dem er hätte sprechen können. Es machte mir nichts aus zuzuhören.
Als er sich ein wenig entspannt hatte, sagte ich: »Ich hab gesehen, wie das Team mit einer Menge Zeug zurückgekommen ist. Ich schätze mal, du wirst es für den Worthüter sortieren und ordnen müssen.«
Zwirn seufzte. »Natürlich muss ich das. Außer mir trauen sie keinem.«
»Wie viel haben die Sachen eigentlich gekostet?« Ich spürte, wie mein Körper sich verkrampfte.
»Ein paar Eimer Fisch. Soweit ich gehört habe, sind diese Tunnelbewohner einigermaßen gerissen und haben die Jäger erst hereingelassen, nachdem sie die Tauschwaren durch einen schmalen Spalt in der Wand gereicht hatten.«
Erleichterung durchströmte mich. Beinahe hätte mein Argwohn alles verdorben. Nur weil die Ältesten ein paar harte Entscheidungen getroffen hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie grausam oder skrupellos waren. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Ich unterhielt mich noch eine Weile mit Zwirn, damit er keinen Verdacht schöpfte, dass ich einzig und allein hinter dieser Information her gewesen war. Ich war eine von den
wenigen, die ihn mochten, und ich wollte nicht, dass er glaubte, ich hätte ihn nur benutzt. In der Küche gingen wir schließlich jeder seiner eigenen Wege, er zu seinen nächsten Erledigungen, ich auf Patrouille.
Diesmal wartete Bleich hinter der Tunnelsperre. Mit kaum verhohlener Ungeduld tippte er mit einem Fuß auf den Boden. Ich war kaum zu ihm hinübergeklettert, da drehte er sich schon weg und verschwand in der Dunkelheit. Ich hatte das Gefühl, dass wir reden sollten, aber er war offensichtlich anderer Meinung. Viel zu schnell vergingen die Stunden zwischen Anspannung und Schweigen.
Endlich, als wir schon wieder auf dem Rückweg waren, sagte er etwas: »Glaubst du ihnen?«
»Wem?«
»Den Ältesten. Ihrem Geschwätz.«
»Über was?« Ich hatte das Gefühl, dass ich es bereits wusste, aber ich wollte, dass er es selbst sagte.
»Banner. Sie behaupten, sie hätte sich umgebracht, weil …« Er verstummte, unfähig, es auszusprechen.
Er war ihr sehr nahegestanden. Das machte ihn zu einem möglichen Kandidaten als Zeuger des ungeborenen Balgs, falls die Geschichte stimmte. Ich mochte das Gefühl nicht, das sich in mir ausbreitete, dachte zurück an den Tag, an dem wir sie gefunden hatten, erinnerte mich an die Schnitte an ihren Handgelenken, wie die Haut ausgesehen hatte …
Mir wurde übel.
»Nein«, sagte ich leise. »Tue ich nicht.«
Er blieb stehen und sagte eine ganze Weile lang nichts, dann drehte er sich zu mir um. »Warum?«
An seinen Augen konnte ich sehen, dass es ihm sofort aufgefallen
war. Ich hatte mich nur geweigert, darüber nachzudenken, aber jetzt zwang mich Bleich, mich zu erinnern. »Die Schnitte waren falsch.«
Wenn ich sterben wollte, würde ich es mit einem einzigen langen Schnitt machen, in einer Bewegung. An denen, die wir bei Banner gefunden hatten, konnte man sehen, wo das Messer stehen geblieben war und die Schnittrichtung geändert hatte. Jemand hatte
Weitere Kostenlose Bücher