Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
bleibe ich nicht der einzige
Arzt in Ihrem Leben. Essen Sie nicht so viel!« Johns Entgegnung: »Nie wieder
hungern!« Aber er hatte immerhin versprochen, den ärztlichen Rat zu bedenken.
    Zehn Jahre! Sie waren so schnell vergangen, als hätte er sie in der
Kutsche durchfahren. Jetzt war er Mitte Vierzig. Seine Hoffnungen reichten für
ein langes Leben, aber das verflixte Körpergewicht lag in der anderen
Waagschale. »Du mußt irgendwelche Übungen machen!« meinte Lady Jane.
    Â»Gut«, sagte er. »Ich gehe zu Mr. Booth und melde mich für seine
Expedition. Das ist die einzige Übung, die mir hilft. Ich stelle ihm allerdings
die Forderung, daß ich die Nordwestpassage nicht Gin Lane nennen muß!«
    Aber da traf einige Tage später in Bolingbroke eine Depesche des
Kolonialministers Lord Glenelg ein. Er freue sich, Sir John auf den
ausdrücklichen und persönlichen Wunsch des Königs den Posten des Gouverneurs
von Van Diemen’s Land anbieten zu können.
    Â»Das ist südlich von Australien! Eine weite Reise«, meinte Lady Jane
sinnend, »und eine Menge Geld, zwölfhundert Pfund im Jahr!«
    Â»Es ist eine Strafkolonie«, antwortete Sir John.
    Â»Dann sollte man das ändern!« sprach die Lady.
    Wenig später traf John die unermüdliche Flora Reed wieder und bat
vertraulich um ihre Meinung.
    Â»Du mußt es versuchen!« sagte sie. »Was ist die Nordwestpassage
wert, sie dient nur dem Ruhm und der geographischen Wißbegier. Was ist das
gegen den Aufbau einer jungen Gesellschaft, in der die Gerechtigkeit noch eine
Chance hat? Und wenn einer es fertigbringt, dann du.«
    Â»Unsinn!« widersprach Sir John. »Ich bin Navigator, ich will die
Menschen nicht ändern und nicht zwingen. Wenn ich hie und da Schlimmeres
verhindern kann, ist das schon viel.«
    Â»Und der Mühe wert!« fügte Flora hinzu.
    Als er nach Hause kam, wußte Lady Jane ein neues Argument: »Von dort
unten ist es nicht mehr sehr weit bis zum Südpol.«
    Â»Ich werde darüber nachdenken.«
    In der Kirche von Spilsby hing jetzt eine steinerne Tafel: »Zum
Gedenken an Leutnant Sherard Philip Lound, auf See vermißt seit dem Jahre
1812.«
    Â»Unsinn, er lebt!« knurrte John. »Irgendwo in Australien. Vielleicht
sogar in Van Diemen’s Land!«
    Die Kapitäne John und James Ross, Onkel und Neffe, hatten
sich rasch entschlossen, das Angebot des Ginfabrikanten wahrzunehmen. Als
Franklin noch einmal anfragte, kam er zu spät. Ein letztes Mal wandte er sich
an die Admiralität. »Leider nein!« antwortete ihm Barrow. »Und selbst wenn eine
Polarreise geplant wäre, dann würden die Admirale lieber einen – verzeihen Sie! – etwas jüngeren Befehlshaber wählen. Zwar weiß jedermann, daß Sie nicht nur
der berühmteste, sondern auch der fähigste –«
    Â»Lassen Sie nur«, unterbrach Franklin, »andere müssen auch eine Chance
haben. Nehmen Sie George Back, der ist jung und, wenn er noch ein wenig älter
wird, besser als ich.«
    Dann ging er zu Fuß durch das schnelle London nach Hause und dachte
weiter über den Gouverneursposten nach: Ich kann eine Mannschaft befehligen,
aber ich kann mich schlecht im Gedränge bewegen. Ob es mir gelingt, eine
Kolonie zu regieren, ist fraglich …
    Während er so dachte, mischte sich in seine Vorstellung von einer
Strafkolonie eine andere: die von der Landschaft am Südpol. Ewige Gletscher und
in ihrem Licht warme Seen mit Fischen und Pinguinen, vielleicht sogar ein Land
mit Menschenstämmen, die keine Eile kannten.
    Nein, Schluß damit! Er konnte sich auf das Regieren einer Kolonie
nicht nur deshalb einlassen, weil er zum Südpol fahren wollte! Van Diemen’s
Land, das war eine Sache für sich allein. Vielleicht starb er schon über dem
ersten Versuch, auch nur das kleinste Schlimme zu verhindern. So ernst war das.
    Â»Gut«, sagte John Franklin, »Van Diemen’s Land. Aber dann im Ernst!«

Sechzehntes Kapitel
    Die Strafkolonie
    Â»Ãœber Sir John werden Sie etwas erstaunt sein«, schrieb
Dr. Richardson an Alexander Maconochie. »Manchmal scheint er nicht alles
wahrzunehmen. Er lacht oder brummt vor sich hin und gibt ausweichende
Antworten, wenn er nachdenken will. Aber er ist ein Mann mit Herz. Sie können
in ihm einen Freund finden, wenn Sie …«
    Die Worte nach dem Komma schabte Richardson

Weitere Kostenlose Bücher