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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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fünfzig. Zusammen mit seiner Erfahrung war auch
sein Tod gewachsen, er nahm langsam Konturen an: vielleicht noch zehn,
vielleicht noch zwanzig Jahre. Aber das Haus stand, John brauchte es nicht mehr
zu ändern, bis die Balken morsch waren.
    Eine Kolonie von 42.000 Menschen. Gut. Schließlich hieß Gouverneur
soviel wie Steuermann. John sagte: »Es ist eine Frage der Navigation!« Er las
Schriften über Verwaltungs- und Strafrecht, prägte sich die Gesellschaftsgruppen
und deren mögliche Interessen ein. Er versetzte sich in den Landbesitzer, der
billige Arbeitskräfte haben wollte, in den Stadtkaufmann, der gutverdienende
Kunden brauchte, und in den Beamten, der gleich zweierlei ersehnte: Lob und
Landbesitz. Er fand durch scharfes Grübeln heraus, was ein Sträfling wollte:
Gerechtigkeit und Gleichbehandlung, vor allem aber eine Chance!
    Stundenlang stand John an Deck, prüfte die Brassen, Stagen, Wanten,
Parduns bis hinauf zu den Toppen der Fairlie und
dachte über das laufende und stehende Gut des Regierens nach, vom Finanzwesen
bis zur Bewegungsgeschwindigkeit der Klassen. Nur wer vorbereitet war, erkannte
die Alarmzeichen. Politik konnte kaum sehr viel anders sein als Navigation.
Hepburn sah es auch so.
    Richardson hatte geschrieben, Alexander Maconochie sei von
der Flamme der Menschenliebe beseelt, dazu schlagfertig und entschlossen, für
jeden Reformer der beste Bundesgenosse. Obgleich Schotte, sei Maconochie
keineswegs kirchenfromm, und langweilig auch nicht.
    Wie ein Reformer sah er in der Tat aus, mehr noch: wie ein Jakobiner.
Sein mageres, scharfäugiges Gesicht, die spitze Nase, der breite Mund, den er
stets in einer sinnlich-kühnen, irgendwie heldischen Spannung hielt – das erinnerte
John an den Lehrer Burnaby. Eifrig hing Maconochie neuen Theorien an, etwa der,
daß die Weißen von den Schwarzen abstammten: es sei nämlich die Intelligenz,
welche die Haut weiß mache.
    Das war für den Sekretär kein sehr guter Anfang: Sophia fand
alsbald, er besitze eine auffallend dunkle Haut.
    Lady Jane hingegen mochte ihn, denn er war unterhaltsam. Wenn er
über die Menschenfeindlichkeit des Strafrechts sprach, konnte er helle Sätze
sagen, die haften blieben: »Es tut dem Menschen nicht gut, wenn man ihm nichts
Gutes zutraut!« Von Buße und Abschreckung hielt er nichts: »Bestrafung entspringt
bürgerlicher Furcht und Bequemlichkeit. Allein die Erziehung kann Gutes bewirken!«
Eines Tages entgegnete John auf eine seiner Thesen: »Es kommt auf den
Einzelfall an.« Er wußte, daß ein philosophischer Radikaler solche Sätze nicht
liebte. Aber Maconochie hatte auch hier seine pädagogische Hoffnung: Sir John
habe eben, und das sei kein Wunder, noch nicht überall letztgültige Einsichten.
Er sei aber auf dem besten Wege. John dachte sich: Maconochie ist etwas
vorlaut. Bei der praktischen Arbeit wird er das ablegen.
    Als die dunklen Steilküsten und zerklüfteten Berge von Van Diemen’s
Land auftauchten, war Lady Jane fast traurig. Für sie, die große Reisende,
hätte die Fahrt noch monatelang weitergehen können, sogar in diesem überfüllten
Schiff. John sah es anders. Er wollte an die Arbeit und freute sich darauf.
    Eine hübsche Hafenstadt lag da vor ihnen mit weißen
Häusern, und darüber der Mount Wellington, ein dunkler, respekteinflößender
Gentleman mit schräggezogenem Felsenscheitel. Als die Fairlie vor Anker ging, kam vom Ufer her die Barkasse mit dem Empfangskomitee gefahren.
Als erster trat ein kleiner Mann im schwarzen Gehrock auf Sir John zu. Er hielt
sich, wenn er keine Verbeugung machte, so gerade wie ein Soldat. Sein Blick war
ruhig, aber etwas wäßrig. Der Mund sah aus, als habe er bereits alles Wichtige
gesagt und sei bis auf weiteres geschlossen. Hände und Arme waren in ausführlicher
Bewegung, aber nicht unsicher oder fahrig, sondern mit theatralischer Gemessenheit.
Das war John Montagu, Koloniesekretär und nach dem Gouverneur der wichtigste
Mann hier. Zehn Jahre lang war er Arthurs engster Vertrauter gewesen, er blieb
weiterhin sein Vermögensverwalter und sein Schwiegersohn. John begrüßte weitere
Beamte, die sich aufgereiht hatten. Er verwandte absichtlich viel Zeit darauf,
sich Namen und Gesichter zu merken. Er wollte seine Untergebenen beizeiten an
Langsamkeit gewöhnen.
    Als die Barkasse sich der Pier näherte, kam eine Brise auf. An den
Spieren

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