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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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14. Juni waren Flüsse und Seen wieder so weit befahrbar,
daß John den Aufbruch beschloß. Alle Karten und Aufzeichnungen wurden in einem
Nebenraum der Blockhütte weggeschlossen. An die Tür nagelte Hepburn eine
Zeichnung, die eine drohend erhobene Faust mit bläulich schimmerndem Dolch
zeigte. Da hier im Norden jedermann, Indianer oder Weißer, jede Hütte benutzen
durfte, mußten die Karten auf irgendeine Weise geschützt werden. Auch Akaitcho
meinte, die Zeichnung werde dabei mehr helfen als das Schloß.
    Es war der erste warme Tag, und er wurde gleich so heiß, daß alle
schwitzten. Wolken von Moskitos, Sandfliegen und Pferdebremsen hüllten die
Gruppe so ein, daß sie im Schatten zu gehen meinte. Keiner konnte sagen, wo
diese Insekten so schnell herkamen und woher sie wußten, daß sie den Menschen
Blut abzapfen konnten. Alle nackten Hautstellen waren im Nu verschwollen und
blutüberströmt. Hepburn ohrfeigte sich selbst, ohne einen der Quälgeister zu
erwischen, und fragte wütend: »Was tun die eigentlich, wenn hier keine
Expedition durchkommt?«
    Da die schwer beladenen Kanus zunächst noch auf Kufen über Schnee
und Eis geschleift werden mußten, kam man am ersten Tag keine fünf Meilen weit.
Nachts wurde es so kalt, daß niemand schlafen konnte. Vom Frost geschüttelt
rief Hepburn ins Zeltdunkel hinein: »Das werden die Biester nicht überleben!«
Da irrte er aber.
    Grünstrumpf war nicht mitgekommen, sie blieb beim Stamm.
Auch einer von Akaitchos Kriegern blieb zurück – ihretwegen. Das wußten alle
außer Hood. Sogar John.
    Hood sprach davon, am Ende der Reise wieder hierherzukommen und mit
Grünstrumpf zu leben, in Fort Providence oder wo auch immer. Alle nickten und
schwiegen. Sogar Back hielt den Mund.
    John Franklin wurde schon wieder von den Indianern bestaunt,
denn er schlug keine Fliege tot. Als ihn eine stach, während er den Sextanten
einrichtete, blies er sie sanft vom Handrücken und sagte: »In der Welt ist
Platz genug für uns beide.« Akaitcho fragte Wentzel: »Warum tut er das?«, und
Wentzel fragte John. Die Antwort lautete: »Ich kann sie weder essen noch
besiegen.« »Das stimmt«, flüsterte Back hinter Johns Rücken, »er würde einen
Moskito niemals kriegen!«
    Wentzel hatte es gehört und gab es an John weiter. John konnte aber
auch sicher sein, daß wiederum Back alles, was Wentzel heimlich sagte, an ihn
weitergeben würde, und daß beide nie verstehen würden, wie wenig es ihn
interessierte.
    Akaitcho entging nichts. Nicht Johns Enttäuschung über die
Pelzhandelsgesellschaften und Backs Torheiten, und nicht die Spannungen
innerhalb der Gruppe. Eines Tages sagte er:
    Â»Die Wölfe sind anders. Sie lieben sich, berühren sich an den
Schnauzen und füttern einander.« Adam übersetzte.
    John wurde etwas unsicher. Er konnte Akaitcho kaum eine Antwort
geben, ohne mehr oder weniger über seine Gefährten zu reden. Er verneigte sich
also vorerst nur und schwieg. Am Abend hatte er die Antwort: »Ich habe viel
über die Wölfe nachgedacht. Sie haben den Vorteil, daß sie nicht übereinander
reden können.«
    Jetzt verneigte sich Akaitcho.
    Nach vier Wochen hatten sie die Mündung des Kupferminenflusses
fast erreicht. Von nun an konnte man jederzeit auf Eskimos treffen, die sich
Kupfer vom Flußufer holten. Akaitcho hielt es für besser, mit seinem Stamm
wieder nach Süden zu wandern. Er war wohl selbst nicht sicher, wie seine
Krieger mit den Eskimos verfahren würden. »Sie sagen von uns, wir seien halb
Mensch und halb Hund. Sie selber trinken rohes Blut, essen Maden und
getrocknete Mäuse. Wir kehren besser um. Ab jetzt müßt ihr euch selbst
ernähren.«
    Es wurde vereinbart, daß Wentzel mit ihnen ging und für den Fall,
daß die Expedition scheiterte und Parrys Schiff nicht erreichte, das Fort
Enterprise mit Vorräten und Munition ausstattete.
    Hood wollte von Akaitcho wissen, wo sich der Stamm im nächsten
Frühjahr aufhalten werde. Akaitcho erklärte ihm mit undurchsichtiger Miene das
Gebiet südlich des Großen Bärensees. Keskarrah reichte ihm die Hand und sagte:
»Wenn ihr hungert, müßt ihr viel trinken, sonst sterbt ihr!«
    Da war sie wieder, die gute, runzelige Elefantenhaut der
See! Hier würden schon bald in langer Reihe die Ostindienschiffe entlangfahren
und die

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