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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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tatsächlich so etwas wie ein Theater oder Freizeitvergnügen wird. Die Direktion des hypothetischen Phantomaten wird nicht daran interessiert sein, das Fiktive der Erlebnisse sonderlich geschickt zu maskieren, wenn dadurch bei den Besuchern etwa ein Nervenschock ausgelöst werden könnte. Schließlich wird es, aufgrund entsprechender Gesetze, wahrscheinlich nicht erlaubt sein, gewisse Wünsche — zum Beispiel solche sadistischer Natur — zu erfüllen.
       Uns geht es hier indessen nicht um ein solches sittlichadministratives Problem, sondern um ein ganz anderes, gnoseologisches. Daß es möglich ist, den »Eintritt« in die Vision vollkommen zu verschleiern, steht außer Zweifel. Jemand begibt sich zum Phantomaten und bestellt einen Ausflug in die Rocky Mountains. Es ist ein sehr schöner und angenehmer Ausflug, bis dieser Mensch schließlich »aufwacht«, das heißt, daß die Vision zu Ende ist; der Bedienstete des Phantomaten nimmt dem Besucher die Elektroden ab, geleitet ihn zur Tür und sagt freundlich auf Wiedersehen, der Mensch tritt auf die Straße und befindet sich auf einmal inmitten einer ungeheuerlichen Katastrophe: die Häuser stürzen ein, die Erde bebt, und aus dem Himmel sinkt eine gewaltige »Untertasse« voller Marsmenschen herab. Was ist geschehen? Das »Aufwachen«, das Abnehmen der Elektroden, das Verlassen des Phantomaten — das waren gleich falls Te ile der Vision, die mit einem unschuldigen Ausflug in die Natur begann.
       Aber selbst wenn niemand auf derartige »Streiche« verfiele, würden in den Wartezimmern der Psychiater gewisse Neurotiker auftauchen, die von einer neuartigen Plage gequält wären, nämlich der Angst, das, was sie erlebten, sei überhaupt nicht wahr, »jemand« halte sie in der »phantomatischen Welt« gefangen. Ich erwähne das, weil es ein eindeutiger Beweis dafür ist, daß die Technik nicht nur das normale Bewußtsein prägt, sondern sich sogar in Krankheiten niederschlägt, die durch sie entstehen.
       Wir haben nur eines der zahlreichen Verfahren erwähnt, mit denen die »Phantomatizität« der Erlebnisse verschleiert werden kann. Es ließe sich noch eine ganze Reihe anderer, nicht minder wirksamer Verfahren anführen, ganz davon zu schweigen, daß die Vision sich in beliebig vielen »Etagen« abspielen kann, wie es oftmals im Traum geschieht, wenn man träumt, man sei bereits erwacht, während man in Wirklichkeit den nächsten, in den vorigen gleichsam eingesetzten Traum träumt. Das »Erdbeben« hört plötzlich auf, die Untertasse verschwindet, der Besucher stellt fest, daß er noch immer in dem Sessel mit den Drähten sitzt, die seinen Kopf mit der Apparatur verbinden. Der Techniker erläutert mit einem zuvorkommenden Lächeln, das sei ein »Zusatzprogramm« gewesen, der Besucher geht wieder nach Hause, legt sich schlafen, geht am nächsten Morgen zur Arbeit, um festzustellen, daß das Büro, in dem er gearbeitet hat, nicht mehr existiert: ein Blindgänger aus dem letzten Krieg ist explodiert und hat es zerstört.
       Das kann natürlich gleichfalls eine Fortsetzung der Vision sein. Wie aber kann man sich davon überzeugen?
       Zunächst gibt es da ein sehr einfaches Verfahren. Die Maschine, so haben wir gesagt, ist die einzige Quelle von Informationen über die Außenwelt. Das ist Tatsache. Allerdings ist sie nicht die einzige Quelle von Informationen über den Zustand des Organismus selbst. Das ist sie nur zum Teil: sie ersetzt nämlich nur die neuralen Mechanismen des Körpers, die darüber informieren, wo Arme und Beine, wo der Kopf sich befindet, wie die Augäpfel sich bewegen usw. Die vom Organismus erzeugte biochemische Information unterliegt dagegen nicht der Kontrolle — zumindest nicht in den bisher besprochenen Phantomaten. Wir brauchen also nur hundert Kniebeugen zu machen: wenn wir dann in Schweiß geraten, wenn uns ein bißchen die Luft ausgeht, wenn das Herz zu hämmern beginnt und die Muskeln müde werden, befinden wir uns in der Realität und nicht in der Vision, denn die Ermüdung der Muskeln beruht darauf, daß sich in ihnen Milchsäure angesammelt hat, und auf den Zucker- oder Kohlendioxydgehalt des Blutes sowie auf die Milchsäurekonzentration in den Muskeln kann die Maschine keinen Einfluß haben. In der phantomatischen Vision könnte man sogar tausend Kniebeugen ohne irgendwelche Ermüdungserscheinungen machen. Doch selbst dem ließe sich abhelfen — sofern natürlich jemandem daran gelegen wäre, die Phantomatik weiter

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