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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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zu vervollkommnen. Ganz primitiv könnte man zunächst dem Phantomatisierten authentische Bewegungen ermöglichen, nur müßte er dazu speziell untergebracht werden, damit er Spielraum hätte (also mit den Muskeln arbeiten könnte). Griffe er dann zum Schwert, so wäre die Bewegung natürlich nur für den äußeren Beobachter echt, da seine Faust ja nicht den Schwertgriff, sondern die Leere umschließen würde. Doch kann man dieses simple Verfahren durch ein vollkommeneres ersetzen. Die chemische Information des Organismus wird dem Gehirn auf verschiedenen Wegen übermittelt. Entweder durch Nerven: sei es, daß der ermüdete Muskel »den Gehorsam versagt«, daß die ausgesandten Nervenimpulse ihn also nicht in Bewegung setzen, sei es, daß wir Muskelschmerzen empfinden, was gleichfalls ein Resultat der Reizung von Nervenendungen ist und sich natürlich phantomatisch imitieren läßt; oder unmittelbar: ein Übermaß an Kohlendioxyd im Blut reizt das Atemzentrum im verlängerten Mark und ruft eine Vertiefung und Beschleunigung des Atems hervor. Aber die Maschine kann ja einfach den Kohlendioxydgehalt der Luft, die der Mensch einatmet, erhöhen; wenn sich die Sauerstoffmenge entsprechend vermindert, verschiebt sich der quantitative Anteil beider Gase im Blut wie bei schwerer Muskelarbeit. Somit scheidet bei einer perfektionierten Maschine auch die »biochemisch-physiologische Methode« aus.
       Bleibt nur noch das »intellektuelle Spiel mit der Maschine«. Die Möglichkeit, Vision und Realität zu unterscheiden, hängt von der »phantomatischen Potenz« der Apparatur ab. Angenommen, wir befänden uns in der zuletzt geschilderten Situation und versuchten herauszubekommen, ob sie authentische Wirklichkeit ist oder nicht. Nehmen wir an, wir kennen einen hervorragenden Philosophen oder Psychologen; wir begeben uns zu ihm und verwickeln ihn in ein Gespräch. Auch das kann Einbildung sein, doch muß eine Maschine, die einen vernünftigen Gesprächspartner imitiert, weitaus komplexer sein als eine, die Szenen wie aus einer »soap opera« arrangiert, etwa die Landung einer Untertasse mit Marsbewohnern. Der »Ausflugs«-Phantomat und der »menschenerzeugende« Phantomat sind im Grunde zwei verschiedene Apparate. Der letztere ist ungleich schwerer zu bauen als der erstere.
       Die Wahrheit könnte man auch anders herausbekommen. Wie jeder Mensch, haben wir unsere Geheimnisse. Mögen sie auch nichtig sein, so sind sie doch unsere. »Gedankenlesen« kann die Maschine nicht (das ist nicht möglich: der neurale »Code« des Gedächtnisses ist eine individuelle Eigentümlichkeit jedes Menschen, und selbst wenn der Code bei einem »gebrochen« wird, sagt das nichts über die Codes anderer). Weder sie noch sonst jemand weiß also, daß eine bestimmte Schublade in unserem Schreibtisch klemmt. Wir eilen nach Hause und überprüfen, wie es sich damit verhält. Eine klemmende Schublade macht es sehr viel wahrscheinlicher, daß die Welt, in der wir uns befinden, real ist. Um etwas so Belangloses wie eine Schublade, die sich verworfen hat, noch vor unserem Besuch im Phantomaten zu entdecken und auf seinen Bändern festzuhalten, müßte uns der Schöpfer der Vision ganz schön ausforschen! Am leichtesten wird es noch sein, die Vision durch ähnliche Einzelheiten zu demaskieren. Aber der Maschine bleibt immer die Möglichkeit eines taktischen Manövers. Die Schublade klemmt nicht. Wir vermuten deshalb, daß wir noch immer in der »Vision« sind. Nun erscheint unsere Frau; wir erklären ihr, es sei bloß eine »Täuschung«. Wir beweisen das, indem wir lebhaft auf die herausgezogene Schublade hindeuten. Die Frau lächelt mitleidig und erklärt, der von ihr bestellte Tischler habe die Schublade am Morgen abgehobelt. Also wissen wir wiederum nichts. Entweder ist es die wirkliche Welt, oder die Maschine hat durch ein geschicktes Manöver unseren Zug pariert. Zweifellos setzt das »strategische Spiel« mit der Maschine voraus, daß sie unser alltägliches Leben genau kennt. Man darf sich allerdings nicht zur Übertreibung verleiten lassen; in einer Welt, in der es die Phantomatik gibt, erweckt jede Erscheinung, die nicht völlig normal ist, den Verdacht, es handele sich um eine fiktive Vision, aber schließlich kommt es auch in der Wirklichkeit gelegentlich vor, daß Blindgänger explodieren und daß Ehefrauen den Tischler bestellen. Halten wir also das folgende fest: die Behauptung, die Person X befinde sich in der wirklichen und nicht in der

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