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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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phantomatischen Welt, kann stets nur wahrscheinlich sein, zuweilen sehr wahrscheinlich, ist aber niemals absolute Gewißheit. Das Spiel gegen die Maschine ist mit dem Schachspiel vergleichbar: die elektronische Maschine von heute verliert gegen einen perfekten Spieler, gewinnt aber gegen einen mittelmäßigen; in Zukunft wird sie gegen jeden Menschen gewinnen. Für die Phantomaten gilt das gleiche. Die prinzipielle Schwäche jeglicher Bemühungen um die Aufdeckung des tatsächlichen Sachverhalts besteht darin, daß jemand, der gegen die Welt, in der er lebt, den Verdacht der Nichtauthentizität hegt, auf sich allein gestellt handeln muß. Wendet er sich nämlich um Hilfe an andere Personen, dann liefert er — oder besser gesagt: dann besteht die Möglichkeit, daß er der Maschine strategisch wertvolle Information liefert. Befind et er sich in der Vision und weiht er einen »alten Freund« in seine existentiellen Zweifel ein, so gibt er der Maschine zusätzliche Information, die sie dazu ausnützt, ihn in der Überzeugung zu bestärken, seine Erlebnisse seien real. Er darf also niemandem vertrauen außer sich selbst, was seinen Handlungsspielraum stark einschränkt. Er handelt gleichsam aus der Defensive heraus, weil er überall umstellt ist. Woraus gleichzeitig folgt, daß die phantomatische Welt eine Welt der totalen Vereinsamung ist. Mehr als einen Menschen kann es in ihr zur gleichen Zeit nicht geben - so wie sich auch zwei reale Menschen nicht in ein und demselben Traum befinden können. Es ist unmöglich, daß eine Zivilisation sich »hundertprozentig phantomatisiert«. Würden nämlich all ihre Mitglieder von einem bestimmten Augenblick an beginnen, phantomatische Visionen zu erleben, so würde die reale Welt dieser Zivilisation zum Stillstand kommen und absterben. Da selbst die appetitlichsten phantomatischen Gerichte nicht die Lebensfunktionen in Gang halten (obwohl man das Gefühl der Sättigung durch Einleitung entsprechender Impulse in die Nerven hervorrufen kann!), muß der phantomatisierte Mensch über kurz oder lang authentische Nahrung bekommen. Man kann sich natürlich einen gesamtplanetaren »Superphantomaten« vorstellen, an den die Bewohner dieses Planeten »ein für allemal«, das heißt bis zum Ende ihres Lebens angeschlossen sind, während die vegetativen Prozesse ihrer Körper von automatischen Apparaten (die zum Beispiel dem Blut Nährstoffe usw. zuführen) aufrechterhalten werden. Eine solche Zivilisation ist natürlich ein Alptraum. Das ist allerdings kein Kriterium für ihre Wahrscheinlichkeit, die von etwas anderem abhängt. Sie würde nur so lange existieren, wie die an den »Superphantomaten« angeschlossene Generation leben würde. Das wäre eine merkwürdige Form der Euthanasie, so etwas wie ein angenehmer zivilisatorischer Selbstmord. Wir halten deshalb ihre Realisierung für unmöglich.

    Periphere und zentrale Phantomatik

    Neben der Phantomatik ist aus der Geschichte eine Reihe mehr oder weniger spezifischer Verfahren bekannt, auf das menschliche Gehirn einzuwirken, sei es durch periphere Reize (»periphere Präphantomatik«) oder durch zentrale Eingriffe (»zentrale Präphantomatik«).
       Zu den ersteren gehören die besonders in frühen Zivilisationen entwickelten Rituale, bei denen die Menschen durch motorische Reize (z. B. Tanzrituale), akustische Reize (rhythmische Impulse mit ihrem »Wiegeneffekt« auf emotionale Prozesse; die Melodie kommt nämlich in der Evolution nach dem Rhythmus), visuelle Reize usw. in einen bestimmten Zustand der Ekstase versetzt wurden. Durch solche Rituale konnte man Gruppen von Menschen in einen Zustand bringen, bei dem das Bewußtsein des einzelnen verdunkelt oder vielmehr verengt war, wie es immer bei besonders starken Emotionen der Fall ist. Heute denkt man bei solchen kollektiven Zuständen höchster Erregung an eine »allgemeine Zügellosigkeit«, an eine Orgie, doch in den Gesellschaften der Vorzeit handelte es sich wohl eher um ein halb mystisches, halb dämonisches Verschmelzen der individuellen Erlebnisse zu einem Zustand allgemeiner Erregung, in dem sexuelle Gefühlselemente durchaus nicht dominierten; die Anziehungskraft solcher Praktiken beruhte wohl eher auf ihrer mysteriösen Fähigkeit, die im Menschen verborgenen, im täglichen Leben nicht sichtbar werdenden Kräfte freizusetzen.
       Zu den letzteren Verfahren gehört das Einnehmen von solchen Substanzen wie Meskalin, Psilocybin, Haschisch, Alkohol, Fliegenpilzextrakt usw.

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